Eine Arche für Amphibien

Weltweit verschwindet mit rapider Geschwindigkeit eine Froschart nach der anderen. Forscher beobachten diesen Verlust der Amphibienvielfalt schon seit fast zwei Jahrzehnten. Sie vermuten, dass Frösche die ersten Opfer der Erderwärmung sind

5.743 Arten, das ist fast ein Drittel aller Amphibien, sind vom Aussterben bedroht

VON HEIKO WERNING

Das Szenario könnte einem düsteren Science-Fiction-Roman entnommen sein: Ein paar in den Augen der Öffentlichkeit leicht verschrobene Forscher – Herpetologen genauer gesagt, also Amphibien- und Reptilienkundler – beobachten ungläubig, wie unter ihren Augen eine Froschart nach der anderen einfach verschwindet. Ohne greifbare Erklärung und in kürzester Zeit, selbst in augenscheinlich völlig ungestörten Biotopen. Und das überall auf der Welt gleichzeitig: im mittelamerikanischen Nebelwald, in den Regenwaldgebieten der australischen Hügel, in den äquatorialen Hochanden, in den verborgenen Tälern des chilenischen Küstengebirges.

Gleichzeitig brechen in Europa und Nordamerika ganze Froschpopulationen sonst überaus häufiger Arten ein, auch hier ohne erkennbare Ursache. Was also wie der Auftakt zu einem gruseligen Ökothriller klingt, ist alles andere als eine Fiktion, sondern für Froschforscher seit gut 20 Jahren traurige Realität.

In den letzten Jahren kursierten die unterschiedlichsten Theorien in Fachkreisen. Klar ist heute, dass es keine monokausale Erklärung gibt, dass man es mit einem Ursachencocktail zu tun hat. Tief in das Geschehen verstrickt ist ein Pilz, der unter bestimmten Bedingungen ganze Froschgemeinschaften in kürzester Zeit ausradieren kann. Woher er kommt oder warum er plötzlich so tödlich ist, bleibt vorerst ungeklärt.

Die These, er könnte mit afrikanischen Krallenfröschen, die weltweit für Schwangerschaftstests eingesetzt wurden, verschleppt worden sein, ist inzwischen verworfen – nicht zuletzt, weil besonders abgelegene Gebiete betroffen sind, in die kein Krallenfrosch jemals kam. Klar ist auch, dass nicht der Pilz allein das Unglück über die Lurche gebracht hat.

Amphibien sind besonders anfällig gegenüber Umweltveränderungen, da sie als wechselwarme Tiere und aufgrund ihrer Glipschhaut sowie ihrer auf Wasser oder Umgebungsfeuchtigkeit angewiesenen Fortpflanzungsweise stark von den äußeren Bedingungen abhängig sind. Derzeit geht man davon aus, dass die Frösche zu den ersten Opfern der globalen Erderwärmung gehören. Die Häufung an Klimaextremen führt zum Beispiel durch verlängerte Trockenperioden oder ungewöhnliche Temperaturmaxima zu massivem Umweltstress, der die Lurche anfällig für den Killerpilz macht.

Andere Faktoren kommen hinzu: die durch das Ozonloch erhöhte UV-Strahlung versengt den Laich, Umweltschadstoffe schwächen den Froschorganismus, und natürlich werden viele Arten auch ganz klassisch aus der Welt geschafft: durch die Zerstörung ihrer Lebensräume.

Mit dem „Global Amphibian Assessment“ hat ein Netzwerk internationaler Forscher eine Art weltweiter Lurchinventur durchgeführt. Das Ergebnis ist erschreckend: 5.743 Arten, das ist fast ein Drittel aller Amphibien, sind unmittelbar vom Aussterben bedroht. Von den 113 bekannten Arten der hübschen Stummelfußkröten beispielsweise gelten heute ganze fünf bis zehn Prozent als nicht bereits ausgestorben oder akut vom Aussterben bedroht. Mit den chilenischen Nasenfröschen droht sogar eine ganze Familie zu verschwinden.

Diese dramatische Entwicklung hat die Wissenschaftsgemeinde in den Alarmzustand versetzt. In einem dramatischen Appell in der Wissenschaftszeitschrift Science warnten im Sommer letzten Jahres 50 international führende Zoologen vor der größten Aussterbekatastrophe unserer Zeit, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Artenvielfalt und die Ökosysteme. Die Wissenschaftler fordern unter anderem mehr Geld für die Forschung, um das letztlich immer noch mysteriöse Amphibiensterben besser zu ergründen. Immerhin könnten die Lurche auch ein wichtiger Baustein der Klimafolgenforschung sein.

Aufgeschreckt vereinbarte der Welt-Zooverband Waza ein Notprogramm, um die am schlimmsten betroffenen Amphibien zumindest provisorisch in menschlicher Obhut zu erhalten. Eine Arche für Frösche, so der Name des Projekts, soll vom Stapel laufen. Da Amphibien von den Zoos bislang als wenig publikumswirksame Tiere sträflich vernachlässigt wurden, will man auch auf die Kenntnisse von Hobbyterrarianern zurückgreifen, die sich schon lange intensiv mit der Haltung und Nachzucht der glitschigen Gesellen beschäftigen und wertvolle Erkenntnisse gesammelt haben. Bei einem internationalen Zoo-Gipfeltreffen Anfang Februar in Atlanta wurde das Projekt auf den Weg gebracht; 400 Millionen Dollar soll es kosten.

Als eine der ersten Maßnahmen startet jetzt ein deutsch-britisches Team nach Chile, um eine Archen-Population der verbliebenen Nasenfrösche in die Zoos von Leipzig, Chester und Atlanta zu holen. Diese von Charles Darwin persönlich entdeckten Fröschlein sollen nicht zuletzt wegen ihrer einmaligen Fortpflanzungsbiologie gerettet werden: Zunächst sucht das Weibchen den passenden Gemahl, indem es potenzielle Bewerber mit kräftigen Tritten davonschleudert, um zu prüfen, wie weit diese so fliegen.

Murkelmännchen haben keine Chance, nur kräftige, wenig flugtaugliche Froschmänner dürfen ran. Denn diese müssen die schlüpfenden Kaulquappen herunterschlucken und in ihrem Kehlsack bis zur Metamorphose spazieren tragen. Dann werden die fertigen Jungfrösche vom Männchen einfach ausgespuckt. Teile dieses spektakulären Verhaltens wurden erst kürzlich entschlüsselt – und stehen nur beispielhaft für die zahlreichen noch unbekannten Arten, Überlebensstrategien und auch möglichen pharmazeutischen Nutzstoffe, die die Amphibien noch für die Wissenschaft bereit halten. Wenn sie zuvor nicht ausgestorben sind.

Ob das Arche-Projekt zumindest einen Teil der jetzt vor dem endgültigen Aus stehenden Arten erhalten kann, ist ungewiss – für die Wissenschaftler ist es aber allemal besser, als tatenlos zuzusehen, wie ein Frosch nach dem anderen für immer verschwindet. Allerdings kann die Lurch-Arche nur vorübergehend helfen. Für ein langfristiges Überleben müssen die eigentlichen Ursachen angegangen werden. Sonst könnte sich nämlich eines Tages herausstellen, dass die empfindlicheren Amphibien einfach nur die Vorhut für viele andere Arten waren, die ebenfalls von diesem Planeten verschwunden sind.