: „Eine erste Freistadt des Glaubens“
REGIONALGEDÄCHTNIS Norddeutsche Identität basiert erstaunlich oft auf Ären von Fremdherrschaft – von Franzosen, Dänen oder Schweden. Am nachhaltigsten fortschrittlich war Hamburgs Konkurrenz- und Nachbarstadt Altona
■ 66, Historiker, war von 2003 bis zu seiner Emeritierung 2013 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit Schwerpunkt Norddeutsche Regionalgeschichte an der Uni Hamburg. Von 1998 bis 2003 war er Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bremen und saß zudem von 1991 bis 2001 als SPD-Mitglied in der Hamburger Bürgerschaft.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr Kopitzsch, gibt es eine norddeutsche Identität?
Franklin Kopitzsch: Da würde ich allenfalls die vage Verbindung mit der Küste und dem Plattdeutschen nennen. Aber wirklich wichtig sind die vielen regionalen Identitäten: Schleswiger, Holsteiner, Nordfriesen, Lauenburger, Hamburger. Im Niedersächsischen gibt es wiederum Ostfriesen, Osnabrücker, Hannoveraner, Braunschweiger …
Ist der Norden mental noch so zersplittert wie zur Zeit der Herzogtümer im 18. Jahrhundert?
Das ist ambivalent. Nach außen wird sich man sich heutzutage natürlich als Schleswig-Holsteiner oder Niedersachse bezeichnen. Aber im Alltag vor Ort ist dann eher die Zugehörigkeit zu Dithmarschen oder Nordfriesland relevant.
Aber unterscheidet sich zum Beispiel der Oldenburger grundlegend vom Ostfriesen?
Durchaus. Da sind zum einen die konfessionellen Unterschiede. Oldenburg ist lutherisch, Ostfriesland war aber stark calvinistisch geprägt. Außerdem hat in Ostfriesland lange die Vorstellung von der friesischen Freiheit nachgewirkt. Freiheit im Ostfriesland des 17., 18. Jahrhunderts, das von großen Marschenbauern geprägt war, bedeutete allerdings etwas anderes als heute. Nämlich Privilegien für bestimmte Gruppen.
Und in Niedersachsen entstand im 19. Jahrhundert sogar das „Niedersachsenbewusstsein“.
Ja, das basierte auf der – historisch übrigens nicht belegbaren – Vorstellung vorzeitlicher Stämme, aus deren Sprache und Bräuchen man ein gesamtniedersächsisches Bewusstsein konstruieren wollte. Politisch bedeutsam wurde das allerdings nie.
1810 hat Napoleons Bruder Jerôme große Teile Norddeutschlands für vier Jahre dem französischen Empire einverleibt. Ist die Franzosenzeit mit ihren „Hanseatischen Departements“ noch im Regionalgedächtnis präsent?
Ja. Denn diese Besatzungszeit brachte einerseits große Belastungen mit sich: Man war in die Napoleonischen Kriege eingebunden und durch Kontinentalsperre und Elbblockade von vielen Handelsbeziehungen abgeschnitten. Andererseits haben die Franzosen viele Modernisierungsprozesse eingeleitet: die Trennung von Staat und Kirche, von Verwaltung und Justiz sowie die Gleichberechtigung der Konfessionen und Religionen. In der populären Vorstellung vieler Norddeutscher hat sich allerdings eher das Bild von Kirchen erhalten, die in der Franzosenzeit zu Pferdeställen degradiert wurden.
Wie wirkt die Schwedenherrschaft des 17. Jahrhunderts auf die heutige Identität Wismars und Stades? Ist sie als glückliche Ära in Erinnerung geblieben?
Darüber kann man im Einzelnen streiten. Stade wurde 1636 einerseits Hauptstadt der deutschen Besitzungen der Schweden und entsprechend ausgebaut, andererseits wurde es im Nordischen Krieg von den Dänen angegriffen und teils zerstört. Im Gegenzug brannten die Schweden das dänische Altona nieder. Solche Ereignisse sind im Gedächtnis geblieben. Andererseits sind heutzutage oft schwedische Delegationen in Wismar und Stade zu Gast, um kommunale Kooperationen auszubauen.
Apropos Altona: Gibt es heute noch einen Altonaer Stolz? Altona ist ja erst 1938 durch das Groß-Hamburg-Gesetz der Nazis ein Teil der Stadt geworden.
Für viele Altonaer war es sicher nicht leicht, auf die Eigenständigkeit zu verzichten. Andererseits hatte es schon in den Jahren 1918/19 in Altona Bestrebungen gegeben, ein Teil Hamburgs zu werden. Als das scheiterte, dehnte sich Altona – teils gegen erhebliche Widerstände – nach Westen aus, gemeindete 1927 die Elbvororte ein und wurde „Groß-Altona“.
Altonas Blütezeit war da schon vorbei. Erinnert sich Altona heute mit Wehmut an das „Goldene Zeitalter“ unter dänischer Herrschaft?
Da sind schon einzelne Errungenschaften im Gedächtnis – die religiöse Vielfalt infolge der Glaubensflüchtlinge, die wegen des spanisch-niederländischen Kriegs ihre Heimat verließen. Altona praktizierte ja eine große Toleranz diesen Minderheiten gegenüber. Auch der – durch einwandernde sephardische Juden aus Portugal forcierten – weit gespannten Handelsbeziehungen erinnert man sich gern. Das 18. Jahrhundert war in der Tat das „Goldene Zeitalter“ Altonas, samt Pressefreiheit und jüdischem Kulturleben. Altona war so etwas wie eine erste Freistadt des Glaubens und der Gewerbe. Und der erste Freihafen Nordeuropas.
Wünscht sich manch ein Altonaer die Dänenzeit zurück?
Gelegentlich blitzt das auf, wenn die dänische Zeit beschworen oder gar der Wunsch laut wird, wieder zu Dänemark zu gehören. Auch einige Bauten erinnern daran, dass es eine eigene Geschichte gibt – etwa die klassizistische Palmaille und der jüdische Friedhof, der kürzlich auf die Vorschlagsliste fürs Unesco-Weltkulturerbe kam.
Auch Glückstadt und Friedrichstadt nahmen im 17. Jahrhundert Glaubensflüchtlinge auf. Viele von ihnen zogen nach dem 30-jährigen Krieg wieder weg. Waren sie nicht integriert? Beruft man sich zu Unrecht auf die einstige Toleranz?
Toleranz ist ja ein Begriff, der erst 200 Jahre später, mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, ins Gespräch kam. Im 16. Jahrhundert verstand man die Glaubensflüchtlinge noch als Gäste, die sich für eine gewisse Zeit dort ansiedelten und denen man religiöse und wirtschaftliche Freiheiten einräume. Das hing oft mit Konjunkturen, Kriegen, Krisen zusammen.
Heißt das, man ließ die Glaubensflüchtlinge aus Opportunismus ins Land?
Jedenfalls standen kommerzielle, finanzielle Interessen der Landesherren dahinter, die sich davon Aufschwung für die Wirtschaft versprachen. Der trat auch oft ein. Auch das Weg- und Weiterziehen vieler Glaubensflüchtlinge erklärt sich oft aus kaufmännischen Erwägungen.
Aber in Altona blieben sie.
Ja. Dort haben portugiesische und deutsche Juden sowie niederländische Mennoniten und Reformierte das Bild der Stadt für lange Zeit mitgeprägt. Zu einer echten Zusammenarbeit kam es allerdings erst unter dem Einfluss der Aufklärung im 18. Jahrhundert.
War das in allen Städten so, in denen Glaubensflüchtlinge lebten?
Nein, da ist Altona mit seiner sehr engen Zusammenarbeit zwischen Christen und anderen Glaubensrichtungen einzigartig. Das 1738 gegründete Christianeum-Gymnasium hat zum Beispiel in erstaunlich hoher Zahl jüdische Schüler aufgenommen. Das findet man in dieser Intensität nirgendwo sonst in Deutschland. Auch konnten Juden in Altona schon im späten 18. Jahrhundert in Vereinigungen, gemeinnützigen Gesellschaften, in Fürsorge- und Wohltätigkeitsvereinen Mitglied werden und wurden in die Vorstandsämter gewählt. Wenn irgendwo in Deutschland die Toleranz-Ideen von Aufklärern wie Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn auf fruchtbaren Boden fielen, dann in Altona.