Oper als Kammerspiel

Dritte Ausnahme-Produktion in Essen in Folge: Dietrich Hilsdorf baut die Giuseppe Verdi Oper „Die Macht des Schicksals“ um. Das Publikum murrte wie immer bei seinen Premieren im Aalto-Theater

VON REGINE MÜLLER

Seit seiner Eröffnung vor 19 Jahren ist am Essener Aalto-Theater Regisseur Dietrich Hilsdorf für Verdi zuständig. Was 1988 mit seiner radikalen „Don Carlo“-Deutung als Riesenskandal begann, hält sich noch immer auf Erregungsniveau: Hilsdorf wird vom Premierenpublikum nur mit lautstarkem Murren ertragen. Hilsdorf liebt eben die Dekonstruktion der überlieferten Sujets und ist ein Meister der Chor-Regie. Seine Hassliebe um die archaischen Ausprägungen des Katholizismus prädestiniert ihn gerade für Verdis Problemkind „La forza del destino – Die Macht des Schicksals“.

Dem im Zenit seines Schaffens entstandenen Werk wurde stets eine wenig nachvollziehbare Handlung attestiert. Dem Problem begegnet Hilsdorf mit entschiedenen Eingriffen. Der erste Akt springt gleich mitten ins Geschehen, ohne die berühmte Ouvertüre und zeigt den Auslöser-Konflikt als Vorspann: Leonora, Tochter des Marchese Calatrava liebt Alvaro, einen Adeligen indianischer Abkunft, der jedoch als unstandesgemäß gilt. Sie will mit ihm fliehen, kann sich jedoch nicht recht vom Vater trennen. Dieser taucht unerwartet auf und wird im anschließenden Streit halb zufällig erschossen – Alvaro und Leonoras Bruder Don Carlo zerren gleichzeitig an der Waffe.

Dann erst ertönt die Ouvertüre, als begänne nun die eigentliche Oper. Tatsächlich spielt das Folgende in einer Art zweiten Realität, in der das übrig gebliebene Trio von der Schuld am Tod des Marchese unter dem Druck einer übermächtigen Religion und deren gestrenger Moral systematisch zermalmt wird. Hilsdorfs zweiter, erhellender Trick: der tote Marchese bleibt allgegenwärtig, denn er verschmilzt mit der Figur des Priors Pater Guardian, der als Vertreter der patriarchalen Religion nun zum Vollstrecker des väterlichen Ehrenkodex wird. Die Bühne (Johannes Leiacker) fürs düstere Mysterienspiel ist eine weiße, klassizistische Marmor-Halle, über deren Portal die Losung: “Nil Separabit“ (Nichts wird uns trennen) prangt. Nichts wird Leonora vom untoten Vater trennen, kein Krieg, keine Liebe. Aus den gescholtenen Wirrnissen wird so also eine vom Vater ferngesteuerte Vernichtungsgeschichte, luzide wie ein Kammerspiel.

Sinnliche Bilderkraft entfesselt Hilsdorf bei den prallen Chorszenen, Sandsäcke und blutverschmierte Chirurgenkittel bezeugen tobende Kriegswirren, weitaus drastischer noch aber wird die Kirche vorgeführt, als Leonora von vermummten „Brüdern“ in einem brutalen Initiationsritus die Frucht ihrer Liebe aus dem Leib gerissen wird, bevor sie in selbst gewählter Klausur unterirdisch weggesperrt wird – bewacht von einer Marienstatue. Für die kalte Pracht der Halle stand „Tara“ aus Selznicks Film „Vom Winde verweht“ Pate. Ein magnetischer Ort, der als Landsitz, dann als Schenke, Kloster und Lazarett fungieren wird. Die Handlung wurde von 1750 auf die Entstehungszeit der Oper (1862-69) verlegt. Renate Schmitzers Kostüme sind entsprechend opulent. Intendant Stefan Soltesz im Graben sorgt dazu für höchste Präzision und geht brachialem Lärmen konsequent aus dem Weg. Das Orchester sitzt auf der Stuhlkante und begleitet die Sänger flexibel. Die befinden sich auf durchweg hohem Niveau: Karina Babajanian ist eine lyrische, warm timbrierte Leonora, Frank Porrettas Alvaro zeigt heldisches Material und Kräfte, Diogenes Randes in der Doppelrolle des Marchese gibt den frommen Worten des Priors mit sonorem Verdi-Bass sehr böse Untertöne. Ein großer Abend und schon die dritte Ausnahme-Produktion in Folge.

19:30 Uhr, Aalto, Essen Infos: 0201-81220