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Archiv-Artikel

Der Farbfilm im Schwarz-Weiß der Stadt

ARCHITEKTUR Venedig bekommt ein neues Museum – und das ausgerechnet in seiner unspektakulären Vorstadt Mestre

Nachhaltigkeit und Energieeffizienz spielen bei dem Architekturprojekt M9 eine tragende Rolle

VON RENATA STIH

Eine der virulentesten Stadttransformationen in Europa findet derzeit im Großraum Venedig statt. Im Kanon der Eröffnung der diesjährigen Architektur Biennale wurde das Projekt mit dem Namen „M9“ in der Fondazione di Venezia im Rahmen der Ausstellung „M9 – Transforming the City“ vorgestellt. Es geht dabei um einen Kulturkomplex mit dem Museum des 20. Jahrhunderts, der derzeit mitten in Mestre, Venedigs Vorstadt auf dem Festland unter Federführung des Berliner Architekturbüros Sauerbruch Hutton entsteht.

Die Großraumregion von Venedig, Mestre, Padua und Treviso (PaTreVe) mit circa 2,6 Mio. Einwohnern ist eine rasant wachsende Metropole. Venedig gilt dabei als die glänzende Schönheit (60.000 Einwohner), und als Medium für neue Diskurse im alljährlich stattfindenden Biennale Kontext; Mestre dagegen steht im Ruf der hässlichen Schwester und ist für Venezianer die Ersatzstadt im Hinterland mit bezahlbaren Mieten und einer bequemeren Infrastruktur. Venedig ist museal, glamourös und bunt; Mestre dagegen grau, staubig, schmutzig, durchwachsen von Industrie und Restearchitektur, in unmittelbarer Nachbarschaft vom Industriestandort Marghera. Obwohl zuletzt verstärkt urbane Eingriffe mit Begrünungs- und Luftverbesserungsprojekten vorgenommen wurden, bleibt das Image von Mestre negativ besetzt, die Stadt ungeordnet. Das soll sich jetzt grundlegend ändern und als Motor für den urbanen und sozialen Wandel spielt das Museumsprojekt M9 eine so wesentliche Rolle, wie zuvor das Centre Pompidou für den Pariser Stadtteil Marais.

Bereits 2010 fiel die Entscheidung für Sauerbruch Hutton, jetzt wird das Kulturprojekt realisiert, das 2016 vollendet sein soll. Sechs internationale Architekturbüros waren eingeladen, ihre Vorstellungen dafür vorzulegen: Agence Pierre-Louis Faloci, Carmassi Studio di Architettura, Mansilla+Tuñón Arquitectos, Souto de Moura Arquitectos, David Chipperfield Architects und Sauerbruch Hutton aus Berlin.

Durchlässige Struktur

Während sich die anderen Konzepte an der scheinbaren Hermetik des Umraums orientieren, teils blockartig massiv, teils Industrieformen simulierend das Grau der umliegenden Fassaden zitieren, überzeugen Sauerbruch Hutton mit einer durchlässigen Struktur und farbigen, skulpturalen Formen, zu denen ein grüner Baum als Naturzeichen gesetzt wird. Formen und Farben heben sich von der heutigen Architekturszene ab.

Sie sind der Farbfilm im Schwarz-Weiß der Städte, ihre Fassaden sind von flimmernden Farbmembranen umhüllt, wie das GSW-Hochhaus in Berlin und das Museum Brandhorst in München. Ihre architektonischen Konstrukte zeichnen sich durch Unmittelbarkeit aus, stehen ganz selbstverständlich im Stadtgefüge, sind durch Neuinterpretationen des Klassischen innovativ; die Formen sind spektakulär und gleichzeitig harmonisch, nie langweilig.

Dieses Feingefühl für den historischen Moment im urbanen Gefüge beweisen sie auch bei M9 in Mestre, das mitten in den Körper der Altstadt gesetzt ist, umgeben von einer desperaten Mischung von Gebäuden, einem Kloster, Wohn- und Verwaltungsgebäuden. Mit ihrem Grundrissplan schaffen sie auch neue Bezugsachsen in das umliegende Stadtgefüge, beleben dadurch diesen heruntergekommenen Stadtteil und katapultieren Mestre aus der Monotonie und Stagnation der Nachkriegszeit direkt in das 21. Jahrhundert hinein.

Das Konzept überzeugt, weil es durch Masse nicht überwältigt, sondern ein eigenwilliges Gebilde in den Mittelpunkt stellt: Zwei zusammenhängende rote Solitäre, das Hauptgebäude des Museums des 20. Jahrhunderts und daneben das kleinere Verwaltungsgebäude. Das Ganze hat etwas von sakralen Prunkbauten der italienischen Renaissance, weil es so kostbar und überraschend mitten in der düsteren Altstadt erscheint, als würde ein Lichtschalter angeknipst.

Die rotgetönte Keramik legt sich wie ein gemusterter Missoni Pullover um die Gebäude; durch die farblich changierende Glasur entsteht ein Schimmer, der der Fassade eine Art lebendige Haut gibt, eine pointillistische Oberfläche, die sich wie eine mediale LED- Wand durch Lichteinfluss verändert. Das suggeriert Bewegung, ein Thema, das sich in Anlehnung an die Kunst des Futurismus quer durch das Gebäude zieht, mit Treppenverläufen und Fenstereinschnitten die Blicke der BesucherInnen lenkt.

Das Museum soll durch den Rückblick auf das 20. Jahrhundert ein Podium für neue gesellschaftliche Fragestellungen sein. Das Erdgeschoss ist durch die Wegführung öffentlich, durchlässig; es dient mit Mediathek, Auditorium, Buchladen der Kommunikation, öffnet sich mit einem Café nach außen, zum Platz mit Baum. Die beiden darüber liegenden Stockwerke nehmen die Sammlungen des 20. Jahrhunderts auf: Hier werden die Kulturwerte des vergangenen Jahrhunderts konserviert; mal sehen, ob dabei auch der politische Rahmen hinterfragt wird. Im obersten Stockwerk des Museums befindet sich ein variabler, mit Tageslicht durchfluteter Ausstellungssaal für temporäre Präsentationen. Hier kann man nach außen, auf eine Terrasse gehen und über die Stadt schauen.

Die dreieckige Form des Museums ist wie ein Herz, das einen kreativen Pulsschlag in die Stadt aussendet. Diese Stadtaktivierung belebt auch die umliegende Baustruktur, deren Transformation Sauerbruch Hutton ebenfalls miteinbezogen haben. Eines davon ist das ehemalige Convento delle Grazie aus dem 16. Jahrhundert, das restauriert und modernisiert verschiedene Dienstleistungen und Geschäfte aufnehmen soll. Dabei wird der Innenhof mit einem lichtdurchlässigen Membrandach versehen, das Regenwasser wird abgeführt und in einer unterirdischen Zisterne gesammelt, denn Nachhaltigkeit und Energieeffizienz spielen bei dem ganzen Projekt eine große Rolle. Bleibt zu hoffen, dass diese Stadterneuerung vor allem den Bewohnern von Venedig-Mestre nutzt und nicht nur eine neue Gentrifizierungswelle in einer dicht besiedelten Gegend in Gang setzt.

■ Bis 28. September, Fondazione di Venezia, Venedig