„Die Jungen hoffen auf den Klebeeffekt“

Leiharbeiter werden unterschätzt, unterbezahlt und fühlen sich schlechter als reguläre Arbeitnehmer, sagt der Soziologe Klaus Dörre. Vor allem fehle ihnen die Anerkennung: Niemand würdige ihre besondere Flexibilität

KLAUS DÖRRE, 49, ist Soziologieprofessor und hat den Lehrstuhl für Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Universität Jena

taz: Herr Dörre, Sie erforschen die sozialen Folgen von Zeitarbeit. Wie würden Sie die Situation der Betroffenen beschreiben?

Klaus Dörre: Zeitarbeiter sind in jeder Hinsicht schlechter gestellt als die regulär Beschäftigten: Sie verdienen 30 bis 40 Prozent weniger, haben faktisch keinen Kündigungsschutz und haben keine Weiterbildungschancen. Ohne Weiterbildung aber schaffen sie den Sprung in die Stammbelegschaft nicht.

Ein Teufelskreis …

… der den Beschäftigten gleichzeitig Extremes abverlangt. Die durchschnittliche Verweildauer von Leiharbeitern beträgt drei Monate. Sie müssen sich ständig auf neue Vorgesetzte und Kollegen einstellen. Sobald sie sich deren Achtung erworben haben, müssen sie woanders wieder von vorne anfangen. Soziologen nennen das den „Zyklus der Anerkennung“. Das Problem ist, dass genau diese aber fehlt. Niemand würdigt die enorme Flexibilität der Betroffenen, sie bekommen dafür selten und wenig Gehaltserhöhung und keine Zertifikate, die einen Aufstieg ermöglichen. Das gibt den Betroffenen das Gefühl, Arbeitnehmer zweiter Klasse zu sein.

Was ist die Folge: sinkender Arbeitseifer, Fehltage?

Im Gegenteil. Die Motivation der Leiharbeiter ist meist sehr hoch. Zum einen wegen des ökonomischen Drucks: Zeitarbeiter sind schnell ersetzbar, bei Krankheit droht Jobverlust. Zum anderen hoffen gerade die Jungen auf den sogenannten Klebeeffekt: die Hoffnung, wegen ausgezeichneter Leistung doch noch ins Unternehmen übernommen zu werden.

Wie stehen die Chancen, „kleben“ zu bleiben?

Laut den offiziellen Zahlen der Unternehmen werden 12 bis 18 Prozent übernommen. Doch ich halte das für optimistisch. Bei den Untersuchungen, die unser Institut in Konzernen und einer großen Zeitarbeitsfirma durchgeführt hat, waren es weniger. Die meisten müssen trotz aller Anstrengung wieder bei null anfangen.

Aber bieten befristete Arbeitsverhältnisse nicht auch Chancen für eine flexible Lebensgestaltung?

Für junge ungebundene Kinderlose bietet Zeitarbeit tatsächlich den Vorteil, viele unterschiedliche Arbeitswelten kennenzulernen. Doch auf die Dauer überwiegen die Nachteile: Auf Leiharbeit können Sie keine langfristige Lebensplanung gründen. Finanzielle Unsicherheit, häufige Ortswechsel, ungünstige Schichtzeiten und mangelnde Perspektiven sind echte Zerreißproben für Partnerschaften. Und der Traum vom normalen bürgerlichen Leben ist unerreichbar geworden: die eigenen vier Wände, der Urlaub mit der Familie. Viele verschulden sich, um nicht darauf verzichten zu müssen. Und erhöhen damit das Risiko, ganz unten zu landen.

Arm, geringgeschätzt, perspektivlos: Sind Zeitarbeiter die Hartz-IV-Empfänger unter den Arbeitnehmern?

Man sollte Zeitarbeiter nicht als bemitleidenswerte Randgruppe abstempeln. Sie sind handelnde Subjekte mit eigenen Interessen. In den Gewerkschaften gibt es immerhin vielversprechende neue Ansätze, diese Interessen in Zukunft effektiver zu vertreten. Schließlich erfahren Zeitarbeiter in zugespitzter Form einen Trend in der Arbeitswelt: die Wiederkehr sozialer Unsicherheit in große Bereiche der Arbeitswelt.

INTERVIEW: NINA APIN