: Gott und Sklave
TRANSZENDENZ Im Computerspiel kann man seinen Körper verlassen. Ein Gedankenprotokoll
VON DANIEL SCHULZ
1 Synchronisation (Dauer: 1 bis 3 Stunden)
Das Geheimnis eines guten Spiels ist es, seinen Körper zu verlassen. Denn reisen, abheben, in See stechen wollen wir, doch der Körper hält uns fest, wie ein tonnenschwerer Anker aus Stahl, unser Geist kauert auf dem Boden eines Hangars aus Beton und kann nicht fliegen, solange sich das Tor nicht öffnet. Hinaus, hinaus wollen wir, hinein, hinein in das Erlebnis, jemand anderes zu sein. In Rollenspielen und Ego-Shooter verbindet sich unser Wesen mit der Figur auf dem Bildschirm, bis wir eins werden. In Strategiespielen, wo wir Armeen bewegen und Reiche zerschmettern, schwebt unser Geist wie der Gottes über dem Wasser und lässt die Mächtigen verzweifeln.
Am Anfang steht eine Zeit, in der sich entscheidet, ob wir mit einem Spiel wirklich glücklich werden, ob es zu uns passt. In dieser Phase synchronisieren sich die Welten. Wir nehmen Kontakt auf mit dem Wesen des Spiels – seinem Humor, seiner Ästhetik, seiner Sicht auf unsere Welt. Ist das Mittelalter da vor uns eine Blümchensexversion oder gibt es Dreck, Zynismus und Mordbrennerei? Darf ich Mann und Frau sein? Sind homosexuelle Beziehungen erlaubt? Die Barriere zwischen uns und dem Spiel zu überwinden, kann dem Versuch gleichen, unser Selbst durch ein Astloch im Bretterzaun zu pressen, wir spüren die Kraft, die das kostet. Aber dort wartet ein Versprechen.
Menschen einer bestimmten Sorte haben sich darüber beklagt, dass zu viel geflohen werde aus dieser Welt in andere. Wo doch unsere Körper, unser Geist hier gebraucht würden – „für die Arbeit“ schreien die Rechten, „für die Revolution“ krakeelen die Linken, „für etwas Sinnvolles“ dröhnen die Unentschiedenen. Spielen ist das Ausbrechen unseres Körpers aus seiner Verwertbarkeit. Spiele, die sich dessen schämen, sind die Kapitulation vor dem Vorwurf des Eskapismus. Verachtenswert.
2 Synchronisierte Phase (Dauer: 10 bis 13 Stunden)
Vor ein Spiel kann man sich nicht hängen wie vor einen Fernseher. Es ist das Gegenteil von Abschalten und fordert immer die aktive Teilnahme, denn nichts passiert, wenn wir es nicht anstoßen. Das zieht uns immer tiefer hinein und lässt uns unsere Körper vergessen, zugleich aber zehrt es an unserer Kondition und wirft uns auf die Grenzen unseres Körpers zurück. Manche versuchen der Erschöpfung mit Hilfsmitteln zu begegnen, einige nehmen die Wachhaltedroge Speed, andere trinken Kaffee. Einige schwören darauf, dass gerade der bewusst erlebte Schlafentzug eine intensive Beziehung mit dem Spiel schafft. Glücklicherweise müssen wir in den meisten Spielen heute nicht mehr essen, um am Leben zu bleiben. Das erinnert nur an den eigenen Hunger.
3 Stand-by-Phase (Dauer: 3 bis 5 Stunden)
Irgendwann sind die Augen zwei Kieselsteine, das Rückgrat eine Feuersäule. Gewaltsam werden wir gezwungen, uns zu materialisieren, halten aber die Verbindung. Obwohl wir in unseren Körper zurückkehren, bleibt ein Teil von uns im Spiel, und während wir schlafen, gehen wir bekannte Pfade und solche, die es hätte geben können. Mit Speed fällt diese Phase natürlich aus.
4 Zweite synchronisierte Phase (Dauer: 6 bis 10 Stunden)
Mein Gott, was will diese Frau bloß noch alles, ich möchte doch nur sehen, wie das ist, mit der zu vögeln. Echt tough, und dann diese Beine. Aber wer nicht will, der hat schon. Dafür steht der Typ auf mich, gut sieht er aus in dem schwarzen Anzug. Mhm, stehen mir eigentlich diese Klamotten? Ganz elegant eigentlich, aber soll das ein Kragen sein …
Wurde schon erwähnt, dass Spielen nicht nur körperliche Anstrengung, sondern auch körperlicher Abgleich und Test ist? Die Entwickler vermögen, uns Körper zu erschaffen, die es in der realen Welt nicht geben kann. Erinnern wir uns an die Debatte, ob Lara Croft mit ihren Brüsten überhaupt lebensfähig sei. Wer sich sorgt, ob Pornografie unser Bild von dem, was an Sex und Körper schön ist, verändert, der kann das beim Spiel erst recht fragen. Schließlich sind wir da mittendrin, statt nur davor.
5 Desynchronisation (Dauer: 8 bis 12 Stunden)
Um im irdischen Leben wieder zurechtzukommen, müssen wir unseren Körper wieder eingewöhnen. Wenn wir das Spiel bewältigt haben, dann fließt unser Geist durch das Astloch langsam wieder in den Körper zurück. Schwieriger wird es, wenn wir das Spiel nur unterbrechen. Dann kollidiert die körperliche und geistige Konditionierung plötzlich mit der realen Welt.
Aber es hilft sich drei Dinge immer wieder zu sagen. Erstens: Diese Welt bewegt sich ohne uns. Wir mögen für eine Weile das Gefühl nicht loswerden, wir würden wie von einem Kraftfeld umgeben in der Mitte allen Seins stehen und irgendwer schöbe das Geschehen wie papierne Kulissen an uns vorbei. Das ist falsch. Nein, wir sind nicht Gott. Ja, wir sind tot, wenn wir springen.
Zweitens: Irren ist menschlich. Ob wir uns morgens für ein Brötchen entscheiden oder abends für eine Affäre: Wir können nicht speichern. Ja, das Optionsmenü taucht in unserem Kopf auf, ja, wir haben schon die Save-Taste gedrückt, aber hey, in dieser Realität gibt es für so etwas keinen Speicherplatz.
Und drittens: Niemand sieht im realen Leben so aus – das sind nur die Glanzeffekte der Spielewelt. Gewöhnen wir uns daran, oder wir werden unser weiteres Leben mit Lara-Bettwäsche schlafen. Und übrigens: Die Anmachsprüche aus den Spielen funktionieren meist auch nicht.