piwik no script img

Archiv-Artikel

Holterdipolter in die Hölle

RADKLASSIKER Wenn sich am Sonntag die Radprofis zum Höhepunkt der Frühjahrssaison von Paris nach Roubaix aufmachen, dann steckt der Zweiradfan wieder einmal im Zwiespalt fest. Soll er glauben oder zweifeln?

Das Wetter soll prima werden. Das ist die gute Nachricht für die Rennfahrer. Die schlechte: Das Rennen ist so schwer wie eh und je; über 258 Kilometer lang, davon geht es 50 Kilometer über das gefürchtete Kopfsteinpflaster. Von Paris nach Roubaix bei Regen zu fahren, ist eine Tortur. Nicht umsonst orteten Profis in dieser Region die „Hölle des Nordens“. Das Pflaster, gleichsam das Purgatorium für Radler, wird glitschig nass, der Staub der Felder zu einer schmierigen Paste, auf der Stürze fast unvermeidlich sind.

„Um bei La Roubaix zu gewinnen“, hat der Sieger von 1995 und 1998 gesagt, der Italiener Franco Ballerini, „musst du lernen, dort zu verlieren. Du musst über Jahre die verschiedenen Bedingungen kennen lernen und die Angst überwinden. Dann wächst langsam der Glaube, dass du stärker sein kannst als La Roubaix.“ Es habe keinen Sinn, sich für dieses Rennen irgendetwas vorzunehmen, „es ist ohnehin jedes Mal anders. Die einzige Taktik, die es gibt, ist, vorher nicht darüber nachzudenken und zu schlafen“, sagte Johan Museeuw einmal; der Belgier hat das Rennen dreimal gewonnen – allerdings nicht immer ganz ehrlich.

25 Teams gehen am Sonntag an den Start, darunter sind 19 Deutsche: John Degenkolb aus Erfurt beispielsweise oder Sprinter Andre Greipel. Über 30 Fernsehsender werden das Rennen in 186 Länder übertragen. Außer Fabian Cancellara, der 2006 gewann, und dem Belgier Tom Boonen sind mit dem Australier Stuart O’Grady und Frederic Guesdon aus Frankreich zwei weitere ehemalige Gewinner dabei. Sollte Boonen am Sonntag einen Pflasterstein, der in Roubaix auch als Siegerpokal taugt, bekommen, dann würde er die alte Rekordmarke egalisieren. Bislang hat lediglich sein Landsmann Roger De Vlaeminck den seit 1896 ausgetragenen Klassiker viermal gewonnen. Einen deutschen Sieger gab es im nordfranzösischen Roubaix nahe der belgischen Grenze übrigens erst einmal: Der 1953 verstorbene Josef Fischer gewann die Premiere im Jahre 1896.

Fest steht: Wer nach über sechs Stunden Dreckfressen und kaum vorstellbarer Schinderei als Erster über die Ziellinie fährt, der war definitiv der Stärkste. Ob dieser Radler zu verbotenen Mitteln gegriffen hat, weiß man nicht. Die Erfahrung hat uns gelehrt: Er hat wohl eher nachgeholfen, als dass er es nicht getan hat. Aber auch in einer Branche, die skandalumwittert und krisengeschüttelt ist, gilt die Unschuldsvermutung. Der Radsportfan argumentiert gerne so, und in seiner Begeisterung für die Radelei hat er ja auch Recht. Gerade die Radsport-Klassiker mit Paris–Roubaix als Höhepunkt bieten Sport der Extraklasse: eine bestialische Hatz von Männern mit Pferdelungen und halsbrecherische Manöver von großen Steuerkünstlern. Wer für einen Moment die Probleme des Radsports vergessen kann, der erlebt ganz großen Sport. Leider nistet im Pulk ein Bakterium. Es hat in der Szene der Radler seinen idealen Wirt gefunden. So bleibt jedes Klassiker-Rennen, und nicht nur das, ein zwiespältiges Vergnügen: hie der Sport, da der Verdacht. Auch das ist mittlerweile ein Klassiker.

MARKUS VÖLKER