: Mob 2.0
Machen Blogger die Welt besser? Nicht grundsätzlich. Im Internet hat alles seinen Platz, vom Menschenrechts-Blog bis zur Hass-Propaganda. Alles in allem ist das ein Fortschritt
Robert Misik ist freier Publizist und Buchautor. Er lebt in Wien und schreibt für die taz sowie für die Magazine „Falter“ und „Profil“ in Österreich. Außerdem führt er seinen eigenen Blog, den man unter www.misik.at finden kann.
Schon vor knapp einem Jahr musste Wael Abbas einige Wochen untertauchen. Die Polizei und die Geheimdienste waren dem jungen Ägypter auf der Spur. Die Vorwürfe: Anstiftung zu Demonstrationen, Beleidigung des Präsidenten, Angriff auf Polizeikräfte. „All das soll ich mit meiner Kamera und dem PC gemacht haben?“, fragte Abbas seinerzeit schmunzelnd.
Heute ist Abbas eine Berühmtheit: der Mann, der Glasnost an den Nil brachte. Der Blogger hatte den Beweis erbracht, dass in ägyptischen Polizeistationen gefoltert wird: Einfach, in dem er Videos von Misshandlungen online stellte – und daraufhin immer mehr solcher verwackelten Dateien zugeschickt bekam, meist von normalen Leuten mit ihrem Fotohandy aufgenommen. Am Ende mussten auch „normale“ ägyptische Medien über das Folterproblem berichten.
Die Aktivisten von „Globalvoice“ (globalvoicesonline.org/-/human- rights-video//) wollen das Prinzip mit ihrem Projekt „Witness“ („Zeugen“) globalisieren. Wer immer Zeuge einer Menschenrechtsverletzung wird – wo immer auf der Welt –, kann Foto- oder Filmdateien hochladen. Obwohl noch im Projektstadium, quillt die Site jetzt schon über von Misshandlungsszenen aus Guatemala, den USA, aus China, Ägypten, Malaysia …
Die Philosophie dahinter: die zunehmende Verbreitung von Technologien wie Video, Computer und Webspace untergräbt in herkömmlichen Demokratien die Macht der etablierten Medien, selbstherrlich die Auswahl zwischen Wichtig und Unwichtig zu treffen. In Despotien untergräbt sie zudem das Nachrichtenmonopol von Diktatoren und Staatsapparat. Beides zusammen führt dazu, dass heute nichts mehr geheim bleiben kann. Das führt einerseits dazu, dass schlimme Dinge aufgedeckt werden. Darüber hinaus hat es möglicherweise sogar zur Folge, dass nicht mehr so viele schlimme Dinge geschehen. Manche Übel werden womöglich vorausblickend abgestellt, weil klar ist, sie bleiben heutzutage nicht mehr geheim. Die Despoten schlagen zwar regelmäßig zurück, manche Blogger wandern ins Gefängnis. Aber das Netzwerk von Netzwerken mit seinen Millionen Poren können sie nicht mehr zustopfen. Kurzum: Blogger machen die Welt besser.
Vorsicht, rufen freilich so manche. In der Bloggosphäre gelten keine der Regeln und Grenzen, an die sich renommierte Medien normalerweise halten – wenn auch da und dort nur mit Ach und Weh. Auch in autoritären arabischen Gesellschaften stellen die Menschenrechtler nur einen kleinen Teil der Web- Zivilgesellschaft dar. Längst sind islamistische Hassprediger oder Dschihadisten, die ihre Snuff-Videos von Enthauptungen und Selbstmordattentaten online stellen, die großen Renner im Netz.
Das Web ist der bevorzugte Tummelplatz von Narren aller Art. Das gilt selbst für Gesellschaften, in denen das Wort noch etwas bewirkt, weil die Meinungsfreiheit unterdrückt ist. Noch mehr aber natürlich für jene, in denen das Gesagte nichts bewirkt, weil alles gesagt werden darf. In den USA wird die Welt der politischen Blogs von den harten Knochen auf der Rechten und der Linken dominiert. Während sich „normale“ etablierte Medien in der Regel doch am Mainstream orientieren – Auflage ist schließlich mit Extremismus nur in Ausnahmefällen zu machen –, herrscht im Netz eine andere Anreizstruktur. Hier gelten andere Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie. Der Moderate geht im Kampf um Beachtung einfach unter – wahrgenommen werden die steilen Thesen.
Deshalb tobt in den USA in der Bloggosphäre, parallel zur Polarisierung der politischen Szenerie, ein Kampf aufmerksamkeitsheischender Scharfmacher, die von den Rändern her agieren. Da geht’s hoch her, etwa zwischen „Christofaschisten“ und „liberalen Totalitarismusfreunden“. Noch ist das in Europa anders, aber das wird sich ändern.
Was im „normalen“ Diskurs marginal bliebe, kann über die selbstreferentiellen Wichtigkeits-Systeme im Web Bedeutung erlangen. Gewiss, das macht die politische Debatte lebendiger – vieles, was sonst im Einheitsbrei der Mitte unterginge, erobert sich jetzt seinen Platz. Das Spektrum der Meinungen differenziert sich angesichts der niedrigen technologischen Eintrittsschwellen aus. Man kann aber auch berechtigt Zweifel hegen, ob das die politischen Diskurse unbedingt gesünder macht. Verschwörungstheoretiker, Klimawandelleugner, rassistische Hetzer – auch sie tummeln sich im Netz wie die Fische im Wasser. Je durchgeknallter, umso auffälliger. Dass Henryk M. Broder gerade zum deutschen „Online-Journalisten 2007“ gekürt wurde, hat so gesehen eine geradezu symptomatische Folgerichtigkeit.
Schon macht ein böses Wort im „Web 2.0“ die Runde: „Mob 2.0“. Damit ist der Herdentrieb sektiererischer politischer Meinungsgemeinschaften gemeint und die Verbissenheit, mit der hier politische Kämpfe ausgetragen werden: Wäre man nicht nur durch Glasfaserkabel miteinander verbunden – und damit: getrennt –, es käme gewiss täglich zu Schlägereien. Aber das böse Mob-Wort meint natürlich nicht nur den freien Lauf politischen Irrsinns, den das interaktive, niedrigschwellige Netz begünstigt, sondern alle möglichen Erscheinungen der Böswilligkeit: das Gerüchtestreuen, die täglichen Rufmorde, das Hochschaukeln, Anschwärzen, die Erosion aller Dämme, die zu beobachten sind, wenn anonyme Poster alles in die Welt setzen können. Denunzianten hatten noch nie so eine schöne Zeit.
Dennoch macht das Netz die Welt besser, und noch im Schlechtesten steckt ein Keim des Guten. Selbst der Netz-Reaktionär marschiert nicht im Gleichschritt, sondern tippt seine eigene Botschaft ins Netz. Und selbst wenn sie sich nur marginal von der Botschaft seines Nebenmannes unterscheidet, so ist es doch seine Subjektivität, die der Typ einspeist. Der User ist immer zuerst Individuum, nicht nur Atom einer Stockmasse. Web-Skeptiker monieren, die Loblieder auf die Vielen, die sich im Web 2.0 beteiligen, auf die Partizipation der großen Zahl, sei nur eine modische Variante des altbekannten, fragwürdigen Lobs der Masse. Aber das geht am Umstand vorbei, dass die Menge im Netz letztlich doch nicht als Masse agiert, sondern jeder für sich.
Gewiss bedeutet das nicht, dass, quasi über den Umschlag von Quantität in Qualität, eine Art kooperative, virtuelle „Schwarm-Intelligenz“ entstünde, wie es die Wikipedia-Philosophie nahe legt. Das ist Web-Romantik. Aber es ist doch eine ebenso simple wie unabweisbare Wahrheit: Unbequeme Nachrichten lassen sich heute nicht mehr leicht unterdrücken. In unseren Breiten nicht – aber auch in China oder Saudi-Arabien nicht. Im Blogzeitalter sitzen die Mächtigen unbequemer.
Gewiss auch ändert das nicht immer viel: Relevant wird, was in der Bloggosphäre auftaucht, bislang jedenfalls erst, wenn es Eingang in die „normalen“ Medien findet – eine paradoxe Dialektik von „alter“ und „neuer“ Technologie. ROBERT MISIK