: „Wir gehen mit Formeln eher musikalisch um“
Drei Abenteurer beamen sich in die Gehirne von Hawking, Gauß und Gödel: Am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg hat heute „Am Ende der Unendlichkeit“ Premiere. Ein Gespräch über das Stück zwischen einem Mathematiklehrer und dem Regisseur
MARTIN OELBERMANN, 38, freier Regisseur, inszeniert unter anderem in Düsseldorf, Dresden, Mainz, Graz und Wien.
taz: Herr Oerlbermann, als Mathematiklehrer muss ich Sie als erstes fragen: Wie waren Sie in der Schule früher in Mathe?
Martin Oelbermann: Nicht besonders gut. Erst als es weniger abstrakt wurde und auch schon mal gezeichnet wurde – bei Kurvendiskussionen zum Beispiel – wurde es besser. Das war sehr mechanisch; da musste man nicht so viel verstehen.
Das Unendliche ist das zentrale Thema Ihres Projekts. Warum beleuchten Sie es ausgerechnet aus der Sicht des Mathematikers?
Ich bin bei meinen Recherchen sehr schnell auf die Mathematik und außergewöhnliche Menschen gestoßen. Riemann, Poincaré, Cantor Gödel – alle haben sich auf ihre Weise mit dem Unendlichen befasst.
Wie setzen Sie ein so abstraktes Thema auf der Bühne um?
Poincaré hat gesagt: Mathematik betreiben bedeutet: Geschichten erzählen über das Unendliche. Also erzählen wir die Geschichte in einer Zeitreise. Wir beginnen im sechsten vorchristlichen Jahrhundert bei den Pythagoreern und enden bei der Stringtheorie von heute. Außerdem gibt es eine Unmenge aufregender Anekdoten. Zum Beispiel die von dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel, der an Unterernährung starb, weil er aus Angst vor Vergiftung das Essen verweigerte. Ein anderes Beispiel ist Hippasos, den die Pythagoreer im Meer ertränkten, weil er das Geheimnis der irrationalen Zahlen – Wurzel 2 zum Beispiel – verraten haben soll und damit die Vorstellung einer wohlgeordneten Welt der damaligen Zeit zerstört hat.
Heute kennt jedes Schulkind Wurzel 2.
Ja, man verlässt die Schule mit der Vorstellung: Die Welt ist geordnet. Aber in Wirklichkeit wird unsere Vorstellung von Ordnung und Wahrheit ständig erschüttert. Die Mathematik selbst ist heute immer noch ein Fass ohne Boden. Wir wissen nicht, was eine Zahl ist, sagen die Mathematiker; wir haben uns entschieden, diese Sinnfrage nicht mehr zu stellen. Für mich als Theatermenschen waren die Sinnfragen aber immer absolut zentral.
Der Mathematiker Stephen Hawkins warnt in Eine kurze Geschichte der Zeit davor, Formeln zu verwenden, wenn man Zuschauer haben will. Bringen Sie Formeln auf die Bühne?
Formeln auf der Bühne – das find ich super. Wir haben nicht viele, aber mit denen gehen wir eher musikalisch um. Durch die Musik wird das abstrakte Thema emotionaler, und die Struktur einer Fuge ähnelt der bestimmter mathematischer Verfahren. Ich war überrascht, als ich las, dass schon die Pythagoreer mit dem Monochord experimentierten, einem Instrument mit nur einer Saite. Sie nutzten es, um Bezüge zwischen Zahlenverhältnissen und Tonintervallen herzustellen. Für eine Oktave etwa muss man die Saite im Verhältnis zwei zu eins teilen.
Die drei Protagonisten im Stück begeben sich auf die Suche nach einem mathematischen Muster für Primzahlen. Ihre Reise kann man als Suche nach Orientierung in einer globalisierten Welt verstehen. Welche neuen Einsichten haben Sie mit Hilfe der Mathematik gewonnen?
Ich habe verstanden, wie schwierig es ist, Erkenntnis zu gewinnen. Politische, wirtschaftliche und private Interessen sind heutzutage komplex miteinander verwoben. Wir können kaum noch entscheiden: Was ist richtig? Was ist falsch? Gedanklich bin ich da zum Scheitern verurteilt. Genauso wie am Begriff des „Unendlichen“.
Was empfehlen Sie?
Unser Erkenntnisraum ist relativ begrenzt. Die Quantentheorie sagt, Elektronen sind mal Teilchen, mal Wellen. Das Universum: Ist es endlich oder unendlich? Wenn ich mir so einen faszinierenden mathematischen Satz wie den „Unvollständigkeitssatz“ von Gödel angucke, dann muss man sagen: unsere Suche geht immer weiter; es wird – mathematisch gesprochen – immer neue Axiome geben, neue Wahrheiten, die sich nicht beweisen lassen; also: immer neue Anlässe, eine bessere Welt zu schaffen.
Kann man da nicht einfach nur resignieren?
Wenn man sieht, wie verrückt die Welt und der paradoxe Zustand sind, in dem wir uns befinden, führt das bei mir zu großer Demut gegenüber dem Leben. Je beängstigender uns die Unendlichkeit erscheint, desto sorgsamer sollten wir mit der Endlichkeit umgehen. INTERVIEW: CHRISTIAN T. SCHÖN
„Am Ende der Unendlichkeit“ hat am heutigen Samstag um 20 Uhr im Hamburger Schauspielhaus Premiere.