: Rigoroser Rudimentarismus
PHILOSOPHIE Eine geistige Erneuerungsbewegung geht gegen die Komplexität der Dinge und die Diktatur der Deutlichkeit vor
Das nach Klarheit und Wahrheit suchende Individuum wird überschwemmt. Zeitung, Fernsehen und das Internet mit seinen sogenannten Nachrichtenportalen voller Meinungen und Informationen – der Strom der Neuigkeiten schwillt an.
Doch jetzt formiert sich gegen diese Informationsflut eine Gegenbewegung: die Rudimentären. Eine von Menschen aller Schichten getragene geistig-politische Strömung, die mit einem Konzept von sich reden macht, das gerade durch seine Einfachheit auf viele Zeitgenossen eine starke Anziehung ausübt. Vergleichbar den Veganern, die ihr Heil in einer selbst gewählten Verknappung des Nahrungsmittelangebots suchen, sehen die Rudimentären den Ausgang aus der Unübersichtlichkeit der digitalen Postpostmoderne in einer freiwilligen Beschränkung der Nachrichtenquellen.
Nur Propagandavideos
Ewald S., ein Urgestein der Bewegung, erklärt es so: „Wir beschränken uns ganz bewusst auf das Lesen von Schlagzeilen, nehmen Hörensagen für bare Münze, glauben Blogs voll unhaltbarer Beschimpfungen aufs Wort und schauen ausschließlich Propagandavideos. Zum Ausgleich lassen wir uns von Verschwörungstheoretikern einlullen oder beten PR-Mitteilungen von Großkonzernen nach. Das sind Sachen, die man einfach so mitnehmen kann, ohne groß darüber nachdenken zu müssen.“
Dragan C., ein Freund Ewalds und ebenfalls Rudiment der ersten Stunde, pflichtet bei: „Differenzierung lehnen wir grundsätzlich als schwach und verwirrend ab. Wir wollen keine Fragen, sondern Antworten. Und das geht nur, wenn man sich konsequent rudimentär informiert.“
Den Vorwurf, dass ein allzu rigoroser Rudimentarismus seine Anhänger in die gesellschaftliche Isolation treibe, lassen die Anhänger der Bewegung nicht gelten – immerhin wüchse die Gemeinde der Brüder und Schwestern im simplifizierten Geiste stetig. Zum gesellschaftlichen Mainstream gibt es dennoch klare Abgrenzungen. Gunther T., Einzelhandelskaufmann aus Würzburg und seit Kurzem überzeugter Rudimentärer, erklärt es so: „Verwechseln Sie uns bitte nicht mit Idioten. Auch wenn die dasselbe sagen wie wir – wir machen das bewusst. Wir haben uns freiwillig aus psychohygienischen Gründen dazu entschieden!“ Sein Geistesgenosse, Murat A. aus Köln, bringt es auf den Punkt: „Ein Veganer ist ja auch keine Kuh, nur weil er dasselbe isst.“
Längst aber haben die Rudimentären ihre Wohnzimmer voll ungelesener Bücher verlassen und suchen nach Wegen, ihre Philosophie alltagstauglich zu machen – wie Sven K. aus Bremen: „Ich schaue im Restaurant gar nicht mehr auf die Karte. Ich bestell einfach, was ich will. Und wenn es das nicht gibt, mach ich den Kellner zur Sau. Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit!“
Auch Thorsten B. aus Berlin sieht die Rudimentären als Bewegung zur Befreiung des Geistes: „Ja, das ist ja das Tolle: Je weniger du mitkriegst, desto öfter kannst du dir sagen: He, ich bin im Recht!“
Ob darin nicht auch ein Gewaltpotenzial schlummert? Thorsten winkt ab: „Wir lehnen Gewaltakte eigentlich ab. Denn wenn jemand Gewalt anwendet, müsste über eine angemessene Reaktion nachgedacht werden. Und das wollen wir nicht. Wir wollen nur unsere Ruhe. Aber sollte die gestört werden, werden wir uns schon verteidigen.“
Diese Einschätzung jedoch scheint Marianne P., selbsternannte Vordenkerin im Rudiment und ehemalige Lifestyle-Redakteurin aus München, zu isolationistisch. Sie sieht das Rudimentäre als Heilslehre der Gegenwart: „Letztendlich ist es doch so: In dieser Welt sind die Probleme derart komplex, dass man sie nur mit sehr komplexen Mitteln lösen könnte. Da die aber niemals vermittelbar und somit durchsetzbar sind, kann man eigentlich auch gleich die erstbeste Lösung akzeptieren. Die ist genauso falsch wie alle anderen und man braucht sich nicht zu quälen. Ist doch nicht blöd, oder?“
Zweifelsohne eine bestechend rudimentäre Logik, die hier an den Tag gelegt wird. Untereinander nennen sie sich die Freunde der mentalen Scheuklappe gern „Rudi“, weil es „das Naheliegendste“ ist und daher „am besten zu uns passt“ (Ewald S.).
Das Naheliegende solle man aber nicht mit dem Beliebigen verwechseln, warnt wiederum Rudi Kevin M. aus Kassel, Betreiber einer ziemlich uninformativen rudimentären Webseite: „Wir bewegen uns ja nicht im luftleeren Raum. Wir haben sogar eine „Charta der Rudimentären“ aufgestellt. Erster Punkt: das Recht auf Freiheit von Information! Zweitens: Ungenau ist genauso genau wie genau, nur ungenauer. Drittens: … hab ich mir nicht gemerkt, war aber auch super. Und die letzten dreißig Punkte hab ich gar nicht erst gelesen.“
Am deutlichsten zeige sich die „Überlegenheit des Rudimentarismus“ in der Religionsdebatte, meint Theodor M., emeritierter Professor aus Münster und seit neuestem begeisteter Neorudimentarier: „Nehmen Sie eine Religion Ihrer Wahl. Sie können diese aufs Fanatischste ausleben und gleichzeitig Rudimentärer sein. Vorausgesetzt, Sie studieren die diversen heiligen Schriften nur auszugsweise, oberflächlich oder gar nicht. Aber das ist ja sowohl dem religiösen Fundamentalismus wie auch dem Rudimentarismus wesensimmanent. Oh! Verzeihen Sie bitte das Fremdwort.“
Rudimentäre Risse
Derart viel Harmonie wirkt auf den halbinteressierten Betrachter fast schon unheimlich, doch tun sich bei näherer Betrachtung Risse im scheinbar geschlossenen rudimentären Weltbild auf. So gärt zwischen den beiden Interessenverbänden, dem Bundesverband der Rudimentären (Bundesrudi) und der Union der Rudimentären (UnRu), seit Kurzem ein Streit.
Marianne P., Vorsitzende der UnRu, sieht es so: „Das Ganze ist lächerlich. Wir haben die Union mit dem Anspruch der Alleinvertretung aller Rudimentären schon vor zwei Jahren gegründet. Bei dem Festakt haben alle gemerkt, hier wird etwas besonders Nebulöses aus der Taufe gehoben: die erste rudimentäre Vereinigung. Und daher die einzige legitime. Auch wenn das den ‚Bundesrudis‘ nicht gefällt.“ Ewald S., selbsternannter Chef der Bundesrudis, lässt das aber kalt: „Die entlarvt sich doch selbst: ‚Alleinvertretung‘ und ‚legitim‘. Das zeigt doch, dass diese Leute sich bereits viel zu intensiv mit der Sache auseinandergesetzt haben. Und so jemand will rudimentär sein? Wir Bundesrudis können nicht einmal Zahlen nennen. Anzahl der Mitglieder? Gründungsdatum? Keine Ahnung, aber wir fühlen uns im Recht. Und das zählt doch für einen echten Rudimentären.
Zu viele Argumente
Und doch gibt es Stimmen, die in dem Streit bereits den Sündenfall der Bewegung sehen. Panrudimentarier Kevin M. mahnt: „Beide Seiten werden mir viel zu deutlich. Da wird ja richtig argumentiert. Das lehnen wir ab. Wir müssen einen Schritt weiter gehen. Wir müssen nicht nur aufhören, uns genau zu informieren, nein, wir müssen es auch schaffen, uns ungenau auszudrücken. Lediglich Ausdrücke wie ‚so, na ja, irgendwie, schaumamal, weißt eh‘ oder ‚in etwa‘ sollten benutzt werden. Wir wenden uns gegen die Diktatur der Deutlichkeit! Natürlich hat uns das den Vorwurf eingebracht, die Nähe der Kanzlerin zu suchen. Aber das ist unfair – die kopiert uns und nicht wir sie. Die verschleiert ja Inhalte, wir haben erst gar keine. Das ist doch …weißt eh, so irgendwie …“
Insofern werden wir von den Rudimentären auch in Zukunft noch viel hören. Oder auch nicht. Schaumamal. SEVERIN GROEBNER