: Schwarze Venus
PIEMONT Die Region versorgt Europa mit Reis und Risotto. Jetzt soll der kulturelle und touristische Wert der Felderlandschaft vermarktet werden
■ Veranstalter: Individuell organisierte Reisen für Gruppen und Einzelpersonen: Ameriga Vozza, Asti, www.ideatours.it
■ Fahrradtouren: Dario Bertoli, Trino, info@valara.it
■ Wohnen und Essen: Hotel Resort Il Convento – Ristorante Massimo, Trino, www.ilconventoditrino.com
■ Besuch beim Reisbauern: Riso Guerrini, Salussola, www.risoguerrini.it
■ Besuch in der Käserei: Angelo Baruffaldi, Castellazzo Novarese, www.eredibaruffaldi.com
■ Bier, Musik und Tischfußball: Birra al popolo, Vercelli, www.bsabeer.it
VON MICHAELA NAMUTH
Von weitem sieht die Landschaft aus wie ein großer blauer See. In ihm spiegeln sich der Himmel, die Wolken und steinerne Landhöfe. Näher betrachtet besteht der riesige See aus vielen unregelmäßigen Rechtecken, die ihn wie Splitter zusammensetzen. Es sind Reisfelder, auf denen bereits gesät und gewässert wurde. Inmitten der Wasserlandschaft verlaufen Feldwege. Früher fuhren dort die Bauern mit Fahrrad und Pferdekarren hin und her. Heute pedalieren hier Ausflügler und Touristen, die diese einzigartige Wasserlandschaft kennenlernen möchten. Die Bauern sind mit dem Traktor unterwegs. Auf einem Feld, das noch nicht bewässert wurde, dröhnt das Ungetüm von Fabrizio Stoppa.
Stoppa, 38, ist Reisbauer. Das waren auch sein Vater und sein Großvater – hier im Piemont, auf den Feldern zwischen Trino und Vercelli. Während sein Vater aber noch den eigenen Boden beackerte, wird Stoppa heute als Traktorfahrer für die Saison angeheuert. „Die Kosten für die Maschinen und für die Bewässerung der Felder waren einfach zu hoch“, erklärt er. Seinen Boden hat er verkauft, und heute arbeitet er für das Fürstentum von Lucedio, ein mittelalterliches Mönchskloster, zu dem neben der Abtei ein ausgedehnter Komplex von Wohnhäusern, Landwirtschaftsgebäuden, Wäldern und Feldern gehört. Alleinige Besitzerin der enormen Latifundie ist die Contessa Rosetta Clara Cavalli d’Olivola Salvadori di Wiesenhoff. In der Region des Savoyer Königshauses sind die guten alten Zeiten für Prinzessinnen und Adelige aller Art offensichtlich nie vergangen. Sie haben sich aber auch auf die neuen Zeiten eingestellt. Auf dem Anwesen gibt es heute Touristenführungen und Kochkurse.
Das Principato di Lucedio, seit jeher umrankt von Schauergeschichten über Tempelritter und Satansanbeter. Und es ist noch immer einer der größte Reisproduzenten der Gegend. Die Zisterziensermönche, die das Kloster um 1100 gegründet hatten, legten hier Anfang des 15. Jahrhunderts die ersten Reisfelder Italiens an. Sie erfanden ein kompliziertes Bewässerungssystem, das bis heute funktioniert. Die Felder, auch Kammern genannt, sind unterschiedlich hoch, sodass das Wasser von einem zum anderen fluten kann. Es kommt von den noch unverschmutzten Gebirgsflüssen Dora Baltea und Sesia und wird über ein Kanalsystem verteilt, das eine Genossenschaft verwaltet. Um ein Kilo Reis zu ernten, werden 3.000 bis 10.000 Liter Wasser benötigt. Das lohnt sich – auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit – nur, weil man zur Flutung im April und Mai das Schmelzwasser vom Mont Blanc und Monte Rosa nutzt. Damit das Wasser nicht versickert, muss der Boden eines Reisfeldes einen hohen Anteil an Lehm enthalten.
All diese Voraussetzungen gibt es im Piemont. Die Italiener, eigentlich eher bekannt für Pasta und Pizza, sind seit Jahrhunderten Spezialisten im Reisanbau. Das Land ist der größte Reisproduzent Europas. Es liefert jährlich 850.000 Tonnen, das sind 60 Prozent der Herstellung in den EU-Ländern. Der größte Teil kommt aus den Anbaugebieten um Vercelli, Novara, Biella und Pavia. Hier leben viele vom Reis, der als glutenfreies Getreide heute begehrter ist als je zuvor. In Vercelli hat der Reis sogar eine eigene Börse, wo die Anbauer ihre Preise festlegen. Die Läden verkaufen Pasta aus Reis. Und in der Brauerei Sant Andrea macht eine Gruppe schräger Typen aus den Körnern Bier, das man in der hauseigenen Kneipe „Birra al popolo“ gleich verkosten kann.
Die Reissorten für das klassische Risotto sind Carnaroli, Baldo, Vialone Nano, Sant Andrea und Arborio. Besondere, ungeschälte Reissorten sind der Rosso Ermes und der Nero Venere, übersetzt „Schwarze Venus“. Giorgio Bonato kennt sie alle in- und auswendig und ist mit dem Reis in einer Art Hassliebe verbunden. Er ist Koch und Besitzer des Restaurants im Hotel „Il Convento“ in Trino. Seine Reisgerichte sind weit bekannt, darunter das lokale Risotto alla Panissa, mit roten Bohnen und in Schmalz eingelegter Salami, der „salame della duja“.
„Bis heute kämpfe ich mit unserem Reis, der sehr viel Stärke enthält“, so der Chef. Sein Geheimtipp für ein gutes Risotto, in dem die Körner nicht zu weich und nicht zu hart sind: „Rühren, rühren, rühren.“ Er und sein Sohn Davide servieren moderne Kreationen wie schwarzen Reis mit Garnelen und Currysauce. Es kommen aber auch ganz traditionell zarte Froschschenkel auf den Teller. Denn wo Reisfelder und Wasser sind, da unkt es allerorten, und was liegt näher, als alles im Kochtopf zu vereinen?
Der Reis bestimmt die Kultur und die Geschichte der Menschen, die hier leben. Bis heute pilgern Touristen zu der antiken Cascina Veneria, die nicht nur der größte Reishersteller Europas, sondern auch Schauplatz des neorealistischen Films „Riso Amaro“ (Bitterer Reis) von 1949 ist. Silvana Mangano spielt darin eine ebenso attraktive wie aufmüpfige Landarbeiterin, die – wie damals Hunderte von Frauen aus Norditalien– anreiste, um gebückt und mit geschürztem Rock das Unkraut aus den Reisfeldern zu rupfen. Die sogenannten Mondine galten vielen als freie Frauen, weil sie selbst ihren Unterhalt verdienten und Verträge mit den Landherren aushandelten. Sie waren aber auch sexuelles Freiwild für die Bauern und viele hatten Gesundheitsprobleme wie Arthritis und Rheuma, weil sie stundenlang im kalten Wasser standen. Die Ernte auf den getrockneten Feldern hingegen war Männersache. Heute werden das Schneiden der Getreidestängel, an denen die Reisrispen hängen, und auch die Arbeit der Mondine von Maschinen erledigt.
Für die Guerrinis, Reisbauern seit über hundert Jahren, ist dies ein großer Fortschritt. Nach der Ernte im Herbst wird der Reis bei ihnen in einer modernisierten Scheune getrocknet, gereinigt, sortiert und geschält. „Wir haben jetzt neue, automatisierte Maschinen, aber unsere Väter und Großväter waren von dem Geratter der Sortier- und Schälmaschinen fast taub“, sagt Luca Guerrini, der den Reisanbau zusammen mit seinen drei Brüdern Roberto, Ivano und Sandro betreibt. Auf ihren Feldern nahe Biella wächst unter anderem die Sorte Baraggia, die das Qualitätssiegel DOP zur geschützten Ursprungsbezeichnung tragen darf. Guerrini erklärt, dass alle Reissorten trotz ihrer Vielfalt eines gemeinsam haben: „Die wichtigsten Nährstoffe stecken in der Schale. Der weiße Reis besteht zu 80 Prozent nur aus Stärke.“
Doch die Piemonteser sind es gewohnt, für ihr Risotto die weißen Körner zu rühren, denn es ist ja eben die Stärke, die es so cremig macht. Deshalb wird aus der Schale manchmal feines Reisöl gepresst, oft wird sie aber wie eh und je den Schweinen vorgeworfen. Das kann manch einem als Verschwendung erscheinen. Doch dafür sind die schwarzen Schweine aus der Gegend um Vercelli und Novara die glücklichsten der Welt – und natürlich auch die begehrtesten.