: Die Dreistigkeit der Lüge
LIDOKINO 4 „The Look of Silence“, die einzige Dokumentation im Wettbewerb von Venedig, führt in die Abgründe des Schweigens
VON CRISTINA NORD
Adi Rukun ist ein schmächtiger Mann Mitte 40. Auf dem Podium des Saals, in dem die Pressekonferenzen des Filmfestivals in Venedig stattfinden, sitzt er neben einem Übersetzer, der ihm auf Indonesisch ins Ohr flüstert, was auf Italienisch und Englisch gesagt wird. Wenn Adi Rukun selbst etwas äußert, übersetzt Joshua Oppenheimer, der Regisseur des Films, der als einzige Dokumentation im Wettbewerb läuft und in dem Rukun eine entscheidende Rolle zukommt. Wie ein Cicerone führt er durch „The Look of Silence“, von Situation zu Situation, von Akteur zu Akteur, besucht Männer, die Mitte der 60er Jahre in Indonesien den politischen Massenmord befehligt und ausgeführt, und solche, die ihn überlebt haben.
Sein Bruder Ramli wurde getötet, bevor Adi Rukun zur Welt kommen sollte. „Ich wollte, dass die Täter zugeben, was sie getan haben“, sagt er, „dass sie erkennen, wie falsch es war, damit wir ihnen vergeben und Seite an Seite leben können.“
Adi Rukuns Bruder war einer von etwa einer Million Menschen, die 1965 nach einem Putsch als Kommunisten klassifiziert, verhaftet und ermordet wurden. Verfolgt wurden alle, die dem Militärregime kritisch gesinnt waren, Gewerkschafter zum Beispiel oder Einwanderer aus China.
Da sich seither an den Machtverhältnissen in Indonesien wenig geändert hat, blieb das Morden ohne juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung. In den Schulen, das sieht man in einer verstörenden Szene, sagen Lehrer noch heute Sätze wie diese: „Kommunisten sind grausam.“ In einer anderen Szene spielt Oppenheimer eine zeitgenössische US-amerikanische Nachrichtensendung ein. Ein Reporter spricht mit dem Bürgermeister eines Dorfs, in dem ein Massaker stattfand. Die Kommunisten, so der Bürgermeister, seien aus freien Stücken zu den Soldaten gekommen, sie hätten darum gebeten, getötet zu werden, da sie ihre Schuld eingesehen hätten.
Die Sätze sind umso schwerer auszuhalten, je mehr man zu ahnen beginnt, dass die Dreistigkeit der Lüge dem Mann vermutlich gar nicht bewusst ist. „The Look of Silence“ ist der zweite Teil eines Diptychons; der erste Teil war „The Act of Killing“ (2012). Darin beschäftigte sich Oppenheimer mit der Perspektive der Täter. Ohne Reue und Scheu reinszenierten die Männer ihre Verbrechen, spielten Folter und Mord nach, und der Regisseur ließ sie gewähren. Es ist gut, dass es nun diesen zweiten Film gibt, weil er die notwendige Ergänzung zu „The Act of Killing“ liefert, indem er die Perspektive der Opfer in einer doppelten Bewegung beleuchtet. „The Look of Silence“ erinnert an das Grauen von 1965, und er macht das gegenwärtige Grauen anschaulich, das daher rührt, dass die Angehörigen der Toten noch immer stigmatisiert werden.
„Ich wollte Sie, die Zuschauer, in die geisterhafte Stille hineinversetzen, in der die Überlebenden zu existieren gezwungen sind“, sagt Oppenheimer, „diese Stille, die die auf Gräueltaten folgt, besonders, wenn keine Gerechtigkeit geschieht.“ Es gelingt ihm, und wenn ein Zweifel bleibt, dann ist es ein leiser: Spricht „The Look of Silence“ zu drastisch von der Brutalität? Verschreibt sich der Film möglicherweise so sehr der „Atrocity Exhibition“, dass er den Reflexionsprozess, nach dem er verlangt, zugleich torpediert?
Filmfestivals sind Orte, an denen nicht Vermittelbares zusammentrifft wie Nähmaschine und Regenschirm auf Lautréamonts Seziertisch, und so kommt es, dass ich nach „The Look of Silence“ eine Komödie sehe. Zum Glück eine wunderbare Komödie. Xavier Beauvois’ Wettbewerbsbeitrag „La rançon de la gloire“ („Der Preis des Ruhms“) nimmt seinen Ausgang von einem tatsächlichen Ereignis. Nachdem Charlie Chaplin an Weihnachten 1977 in seinem Wohnort am Genfer See verstorben war, wurde seine Leiche entführt; die Kidnapper forderten von Oona Chaplin ein Lösegeld. Bei Beauvois sind die beiden Entführer Wiedergänger von Chaplins Figuren, arme, naive Männer, von unbarmherzigen Verhältnissen in große Not geworfen, aus der sie sich strauchelnd zu befreien suchen. Benoît Poelvoorde und Roschdy Zem, die Darsteller der Hauptfiguren, bilden ein perfektes Team für eine buddy comedy. Wenn Zems Figur steif die Hüften vor- und zurückschiebt, als Poelvoordes Figur ihn zum Tanz bittet, ist das eine Bewegung, die so unvergesslich werden könnte wie Chaplins schraubende Hände am Fließband von „Modern Times“.