: Schulpraktikum in der Favela
AUS KÖLN BARBARA LAMBER
Begeistert hüpft Anna Sodermanns durch den Raum. „Juhu, ich habe mein Ticket“, jubelt die 17-Jährige. Nach einem Jahr der Vorbereitung geht für sie ein Traum in Erfüllung: Anna fliegt nach Brasilien, macht dort ein vierwöchiges Schulpraktikum.
Im Lehrerzimmer des Kölner Richard-Riemerschmid-Berufskollegs gibt Eveline Hefter-Neumann fünfzehn aufgeregten Schülerinnen und Schülern die Flugtickets und beantwortet letzte Fragen. Das Ziel der Reise: eine Schule mitten im Elendsviertel der Stadt Petrópolis, 60 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Das Centro Educacional Sao Jorge bekommt seit nunmehr drei Jahren Geld und Unterstützung von zwei Kölner Schulen, dem Berufskolleg und dem Humboldt-Gymnasium.
„Morgen um 14:40 Uhr müsst ihr am Hauptbahnhof Gleis 6 sein.“ Lehrerin Eveline Hefter-Neumann hält die Fäden des Projektes in der Hand. Ein Jahr lang hat die Gruppe den Aufenthalt vorbereitet. Hoch motiviert haben die Jugendlichen Portugiesisch gelernt und Spenden gesammelt. Allein bei einem Sponsorenlauf von Schülern des Humboldt-Gymnasiums kamen 3000 Euro zusammen. Geld, das dringend gebraucht wird, um im Erziehungszentrum Sao Jorge für den bei uns ganz normalen Komfort zu sorgen. „Wir haben vor, die Klassenräume zu renovieren“, erzählt Eveline Hefter-Neumann, „und eventuell auch die Küche, weil die Decke dort so verschimmelt ist. Das Dach ist undicht.“ Mit einer größeren Spendensumme sollen außerdem die Sanitäranlagen erneuert werden. „Bisher gibt es nur zwei Toiletten für die ganze Schule.“
Wichtig sei den Schülern, erläutert die Lehrerin, dass sie nicht außerhalb des Elendsviertels wohnen, sondern mittendrin: „Wir sind nicht Gäste, die da hinkommen, um zu helfen. Sondern wir machen mit, wir leben mit, wir arbeiten mit und wir feiern mit. Es ist so, als ob wir da wohnen würden.“ Im Lehrerzimmer in Köln werden die praktischen Alltagsfragen besprochen. „Nehmt ihr einen Fön mit?“ fragt eine Schülerin. „Welche Adapter brauchen wir für die Steckdosen in Brasilien?“ Ganz so wie die Nachbarn im Elendsviertel möchten die Schüler wohl doch nicht leben. Kaum das Ticket in der Tasche, haben viele Schüler es plötzlich eilig. Neben Schulunterricht oder Berufsausbildung bedeutet das „Projekt Brasilien“ für alle Beteiligten richtig viel Einsatz. Einige schreiben sogar vor der morgigen Abreise noch eine Klausur. „Auch für mich ist das wie ein zweiter Job“, sagt die Lehrerin. „Die Stunden, die ich damit verbringe, darf ich gar nicht zählen.“
Für Anna Sodermanns, die die Klasse 12 am Humboldt-Gymnasium besucht, ist es eine einmalige Gelegenheit und ein tiefes Bedürfnis, zu helfen. „Es gibt viel zu viel Armut auf der Welt. Man muss irgendwo anfangen. Und wenn es nur so ein kleines Projekt ist.“ Dieses „kleine“ Projekt gibt immerhin 120 Kindern die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Außerdem erhalten sie dort täglich zwei Mahlzeiten - für die Bewohner der Favela ist schon das Anreiz genug, die Schule zu besuchen.
Der 17-jährige Marc Fanroth macht gerade eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Marc nimmt für den Arbeitseinsatz in Brasilien 20 seiner 25 Tage Jahresurlaub. Er wird in dem Elendsviertel weiter streichen und lackieren. Das entspricht nicht dem Klischee von deutschen Jugendlichen. Was treibt Marc an? „Natürlich Brasilien sehen und erleben, wie die Mentalität ist“, erklärt er. „Aber schon als Kind habe ich gesagt: Ich möchte Menschen helfen, etwas Gutes tun. Eigentlich wollte ich Arzt werden. Daraus ist nichts geworden. Aber ich möchte dort sehen, wie ich mit den Menschen umgehen kann.“ Nach seiner Ausbildung will Marc noch weiter zur Schule gehen und vielleicht „die soziale Richtung einschlagen.“
Eveline Hefter-Neumann berichtet, dass Schüler eines Berufskollegs selten die Chance erhalten, an einem sozialen Projekt teilzunehmen. „Leider haben die Chefs nicht immer Verständnis, wenn ihre Auszubildenden vier Wochen Urlaub einreichen.“
Das Hilfsprojekt hat schon eine lange Vorgeschichte. Der Träger des alternativen Nobelpreises Leonardo Boff trug die Idee, die kleine, in Selbsthilfe entstandene Schule zu unterstützen, 1992 nach Deutschland. Damals bestand sie nur aus einem Raum für dreißig Schüler. Im Lauf der Jahre wurde aus der verwahrlosten Schule ein Bildungszentrum. Neben Unterricht und Verpflegung der Kinder im Alter von 5 bis 16 Jahren bietet das Zentrum Sportangebote und Förderunterricht für Jugendliche an. Für die Kinder und Jugendlichen des Elendsviertels Alto Independência eröffnet die Schule eine Zukunftsperspektive.
Die Begegnung mit den deutschen Schülern soll den brasilianischen Kindern auch einen kulturellen Austausch ermöglichen, besonders weil sie in der Favela sehr isoliert leben. Die jungen Kölner bringen nicht nur Spenden von zuhause mit, sie möchten gemeinsam mit den brasilianischen Kindern kreativ werden, Ideen entwickeln. Anna erklärt, was sie vorhaben: „Es geht um die Familie. Wir wollen ganz viel Praktisches zusammen mit den Kindern machen: Film, Tanz, Kostüme basteln, Lieder singen oder ein kleines Theaterstück einstudieren. Vielleicht können wir zeigen, dass es nicht nur ums tägliche Überleben geht.“
Beim letzten Gruppentreffen vor der Abreise gibt es ein weiteres drängendes Problem: das Reisegepäck. Berge von Sachspenden sind in den letzten Wochen abgegeben worden: Kleidung, Schuhe, Spiele, Bilderbücher, Farben, Bastelmaterial und kleine Geschenke für die Kinder. Dinge, die in der Favela dringend gebraucht werden. Die Gruppe soll die Spenden in je zwei Gepäckstücken à 32 kg mitnehmen. Fragen wie: „Mein Koffer ist nicht groß genug. Darf ich noch ein weiteres Gepäckstück mitnehmen?“ oder „Wer hat noch Platz, ich kriege die Geschenke nicht mehr unter?“, prasseln auf Eveline Hefter-Neumann ein. Marc fragt sich, wie er die beiden Koffer zum Bahnsteig schaffen soll.
Freitag Mittag. Die Schüler haben es mit schweren Koffern und Rucksäcken zum Kölner Hauptbahnhof, Gleis 6, geschafft. Sie wirken aufgeregt und neugierig auf das, was sie erwartet. Marc wird von der ganzen Familie begleitet. „Wir finden es gut, dass Marc mitmacht,“ sagt sein Vater. „Das ist doch eine Erfahrung für das ganze Leben. Aber wir sind auch froh, wenn er zurück ist. Er war noch nie so lange alleine weg.“
Lehrerin Eveline Hefter-Neumann kann die Koffer und Taschen kaum schultern. Sie strahlt dennoch vor Optimismus: „Dieses Projekt eröffnet neue Perspektiven. Und wenn es einen wirklich gepackt hat, dann lässt es einen auch nicht mehr los.“