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Archiv-Artikel

Ein Stück namens Leben

ZEITSCHNITT Zufällig stieß der Fotograf Chris Killip an der nordenglischen Küste auf Kohlesammler. 30 Jahre später sind seine Bilder jener archaischen Außenseitergesellschaft nun in Braunschweig zu sehen

Killip fotografierte stets für alle sichtbar mit der großen Plattenkamera

Als er 1976 das erste Mal in Lynemouth, nördlich von Newcastle upon Tyne, an die Küste kam, habe er seinen Augen nicht getraut, erzählt Chris Killip. Da war zum einen eine Kohlemine, die vier Meilen außerhalb unter der Nordsee förderte, dazu ein Kraftwerk und eine Aluminiumhütte – eine perfekte Industrieszenerie des späten 20. Jahrhunderts. Am Strand davor aber, ein Treiben wie aus dem Mittelalter: Menschen mit Pferden und Karren, die angespülte Kohle auflasen oder mit Netzen aus dem Wasser fischten – Abfall aus der nachlässigen Produktion der offiziellen Mine, die als Hehlerware verkauft werden konnte.

Es brauchte viele vergebliche Versuche, bis Killip nach mehreren Jahren das Vertrauen der Kohlesammler gewonnen hatte und sie fotografieren durfte – ihr Tun war natürlich illegal und sie befürchteten, der Fotograf wäre ein Spitzel der Behörden.

Also stellte Killip 1983 einen Wohnwagen in ihr Camp und verbrachte beißend kalte und feuchte Wintermonate mit ihnen. Nur in dieser Jahreszeit spülte die raue Nordsee verlässlich Kohle an. Und Killip tauchte ein in die spezifische Kultur der Kohlesammler: Jenseits ihrer prekären Existenz war ihr Leben bestimmt von unbändigem Willen zur Freiheit und archaisch anmutenden Werten, ähnlich denen des fahrenden Volkes, dem auch einige entstammten.

Killip, bis heute fasziniert von jener Gemeinschaft, fotografierte stets für alle sichtbar mit der großen Plattenkamera: Jeder konnte entscheiden, sich doch noch abzuwenden oder ganz aus der Szene zu verschwinden. So entstanden rund 300 Aufnahmen, von denen Killip 1988 nur eine Handvoll in seinem fotografischen Essay „In Flagrante“ verwendete. Das Buch erfasste, mit weiteren exemplarischen Protagonisten, das sozial verwüstete Nordengland der Ära Thatcher nach dem ökonomischen Niedergang der Schwerindustrie. Dafür erhielt Killip 1989 den Henri-Cartier-Bresson-Preis, seit 1991 lehrt er in Harvard.

Mittlerweile sind die Kohlemine, das Kraftwerk und die Aluminiumhütte verschwunden, der Ort des wilden Kohlecamps wurde ein offizieller Campingplatz. Und Chris Killip nahm das Angebot an, eine monografische Ausstellung und einen Fotoband aus seinem Bildkonvolut der Kohlesammler zusammenzustellen – wohl auch deshalb, weil nun keine juristischen Konsequenzen für die Portraitierten mehr zu befürchten sind. Als einzige Station in Deutschland ist „Seacoal“ derzeit in Braunschweig zu sehen.

Das Material nach fast 30 Jahren erneut in die Hand zu nehmen, Bilder auszuwählen und zu einer Erzählung zu verdichten, scheint ihm viel bedeutet zu haben. Nicht nur, weil sein sozialdokumentarischer Zeitschnitt nun endlich von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Und wohl auch nicht nur aus Erinnerung an viele der Abgebildeten, mit denen Killip lange Freundschaften verband.

Killip erweckt eine vollkommen andere, zwar noch nicht lange vergangene, aber doch gesellschaftlich verdrängte Welt wieder zum Leben. Nicht als abstrakte, distanzierte Geschichtsschreibung, sondern als konkrete Erklärung dessen, „what happens“, so Killip selbst. 116 Bilder umfasst der Fotoband zur Ausstellung. Die letzten sechs Seiten widmet Chris Killip ausgewählten Personen, die er, wie Darsteller auf der Bühne, namentlich vorstellt – Darsteller eines Stückes, das ihr eigenes, außergewöhnliches Leben schrieb. BETTINA MARIA BROSOWSKY

„Seacoal“: bis 15. Mai, Braunschweig, Museum für Photographie