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Archiv-Artikel

„Immenser Nachholbedarf“

Die Universität Osnabrück startet Norddeutschlands ersten Studiengang für Islamische Religionspädagogik. Uni-Vizepräsident Thomas Vogtherr erklärt, warum

THOMAS VOGTHERR, 51, ist Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Uni Osnabrück, seit 2005 Vizepräsident für Studium und Lehre.

INTERVIEW THORSTEN STEGEMANN

taz: Herr Vogtherr, darf man die Einführung des Studiengangs als Beitrag zur Integrationsdebatte sehen?Thomas Vogtherr: Unbedingt! Eine Universität muss sich übrigens nicht nur bewusst an gesellschaftlichen Debatten beteiligen, sondern auch versuchen, diese mitzubestimmen. Wir sind zwar grundsätzlich zur Neutralität verpflichtet, haben aber gerade in der Lehrerausbildung einen politischen Auftrag. Den nehmen wir nicht wahr, wenn fünf Prozent aller Schülerinnen und Schüler im staatlichen Schulwesen keinen qualifizierten Religionsunterricht erhalten. In diesem Bereich ist viel zu lange überhaupt nichts passiert – jetzt haben wir einen immensen Nachholbedarf.

Dennoch sind bisher nur 35 Studienplätze vorgesehen. Gibt es bei mehr Bewerbern einen Numerus clausus?

Nur im Notfall. Das Wissenschaftsministerium hat die Bereitschaft erklärt, bei Bedarf über eine Ausweitung des Personalbestandes zu verhandeln.

Wie finden Sie die Lehrer für ein Fach, das es noch nicht gibt?

Wir haben diverse Schulversuche und ein sehr erfolgreiches Bund-Länder-Projekt durchgeführt, bei dem Lehrer durch ein Fernstudium weitergebildet wurden. In dieser Zeit haben wir viele Kontakte und Erfahrungen gesammelt. Allerdings gibt es in Deutschland momentan tatsächlich nur vier oder fünf Personen, die alle Qualifikationsmerkmale für eine Professur „Islamische Religionspädagogik“ erfüllen würden. Wir werden deshalb einen ungewöhnlichen Weg gehen und einige Kandidaten direkt auffordern, sich bei uns zu bewerben. Eine personelle Fehlentscheidung können wir uns einfach nicht leisten. Das hängt nicht allein mit dem großen öffentlichen Interesse, sondern auch mit simplen finanziellen Erwägungen zusammen, die in jedem anderen Fach ebenso greifen: Eine Professur kostet auf 20 Jahre gerechnet immerhin zwei Millionen Euro.

Das Studium soll – mit Ausnahme der arabischen Sprach- und Lektürekurse – in deutscher Sprache stattfinden.

Das ist unabdingbar. Unser Ziel besteht darin, islamischen Religionsunterricht in Einrichtungen anzubieten, die sich in staatlicher Trägerschaft befinden. Wir wollen gerade nicht dem Beispiel Berlins folgen, wo dieser Unterricht in Koranschulen durchgeführt wird und sich damit der staatlichen Kontrolle weitgehend entzieht. Wir brauchen für dieses Integrationsangebot ein Höchstmaß an Transparenz.

Die islamischen Gruppen sollen sich trotzdem auch in Zukunft an dem Projekt beteiligen können.

Das ist uns ganz wichtig. Wir werden auch niemanden auf den Lehrstuhl berufen, der sich in einer erkennbaren grundsätzlichen Konfrontation mit den hier lebenden Muslimen befindet. Das wäre absolut kontraproduktiv. Stattdessen setzen wir uns im Mai mit allen Beteiligten wieder an einen Tisch, um organisatorische und inhaltliche Fragen noch einmal im Detail durchzusprechen. Einzelne Verbände wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland, DITIB oder die Schura Niedersachsen sollen in den Berufungsverfahren auch die Möglichkeit bekommen, Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben. Ein Stimmrecht haben sie allerdings nicht, denn Personalentscheidungen sind auch in diesem Fall allein Sache der Universität.

Wie werben Sie bei Eltern und Schülern für den islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen?

Direkt vor Ort. Der Schulversuch hat gezeigt, dass sich Lehrer, Eltern und auch die Kinder für dieses Projekt begeistern können. Mehr als 600 Seiten Unterrichtsmaterial für dieses Unterrichtsfach sind bereits entstanden, und das Kultusministerium hat ermittelt, dass rund 70 Prozent aller hier lebenden Muslime bereit wären, an diesem Unterricht teilzunehmen. Das ist eine große Chance, den Begriff Integration mit Leben zu erfüllen.