: Straßburg rügt Polen
Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Warschau zur Zahlung von Entschädigung an Mutter. Dieser war eine Abtreibung verwehrt worden
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
Alicja Tysiac zittert am ganzen Leib. Gerade hat die zierliche junge Frau erfahren, dass sie ihren Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewonnen hat. Vor sechs Jahren hatten polnische Ärzte sie zur Geburt ihres dritten Kindes gezwungen, obwohl die sehbehinderte Frau dadurch zu erblinden drohte. „Ich habe gewonnen!“, flüstert sie, „aber jetzt geht die Hetze gegen die angebliche Rabenmutter wohl richtig los!“ 25.000 Euro „moralische Wiedergutmachung“ muss der polnische Staat Alicja Tysiac zahlen, außerdem 14.000 Euro Kostenerstattung für den Prozess.
Durch die verweigerte Abtreibung, die zur Invalidität der dreifachen Mutter führte, habe der polnische Staat das Recht von Alicja Tysiac auf Schutz ihres Privat- und Familienlebens verletzt. Dieses aber ist durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert.
Für die polnische Regierung, die erwägt, ein totales Abtreibungsverbot in die Verfassung aufzunehmen, ist dieses Urteil ein Desaster. Denn es beweist, dass Polinnen sogar in den Fällen, die nach derzeitigem polnischem Recht eine Abtreibung erlauben, dieses Recht nicht durchsetzen können. Tysiac steht nicht alleine da. Suchen Schwangere in Polen nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für ihre Gesundheit oder im Fall einer irreversiblen, schweren Missbildung des Fötus Hilfe bei einem Arzt, bekommen sie diese meist nicht.
Auch pränatale Untersuchungen werden oft verweigert, um Frauen keinen „Vorwand“ für die Abtreibung eines schwer missgebildeten Fötus zu geben. Die Folge: auf 360.000 Geburten kamen 2005 225 legale Abtreibungen. In beiden Fällen sind es die niedrigsten Zahlen in der EU. Dafür kommen in Polen jedes Jahr rund 7.000 zum Teil schwer missgebildete Kinder zur Welt, was EU-weit die höchste Zahl ist.
Als Alicja Tysiac vor knapp sieben Jahren erneut schwanger wurde, bestätigten drei Augenärzte, dass das Risiko einer starken Sehkraftminderung bis hin zur Erblindung sehr hoch sei. Bei den ersten beiden Geburten hatte sich die Sehkraft stark verschlechtert. Alle drei weigerten sich, die Diagnose schriftlich zu bestätigen, da diese es Tysiac ermöglicht hätte, eine Abtreibung aus gesundheitlichen Gründen vornehmen zu lassen. Als sich im zweiten Monat die Sehkraft verminderte, bestätigte dies ein Gynäkologe, konnte aber keinen Zusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der Sehkraftminderung feststellen. Als ihr eine Internistin die Diagnose schriftlich gab und sie zu einem Gynäkologen ging, zerriss dieser das Papier.
Das Angebot eines Arztes, den Abbruch für umgerechnet 1.250 Euro vorzunehmen, lehnte sie ab, da sie das Geld nicht auftreiben konnte. Unmittelbar nach der Geburt platzte in Alicja Tysiacs Augapfel ein Blutgefäß und die Netzhaut löste sich. Nur eine Notoperation verhinderte die sofortige Erblindung. Aber die braunhaarige Frau ist heute schwer behindert und erhält eine Invalidenrente. Sie lebt mit ihren drei Kindern in einer Einzimmerwohnung. Noch hat das polnische Gesundheitsministerium nicht Stellung genommen. „Wir müssen die Begründung des Urteils erst analysieren“, so ein Sprecher. „Dann entscheiden wir, ob wir in Berufung gehen.“