Deutsche beleidigt

VON CHRISTIAN FÜLLER

Ganze zwei Minuten dauerte der deutsche Teil. Nur solange brauchte der Sonderberichterstatter der UN, Vernor Muñoz Villabolos, gestern, als er vor dem Menschenrechtsrat in Genf das deutsche Bildungswesen einschätzte. Muñoz monierte, dass die deutsche Schule sozial benachteiligte, ausländische und behinderte Schüler diskriminiere.

„Ich glaube, dass das gegliederte System und die Art der Aufteilung der Schüler soziale Ungleichheit betont“, sagte Muñoz wörtlich, als er vor den 47 Mitgliedern des Menschenrats, Nichtregierungsorganisationen und Gästen seinen Länderbericht Deutschland einbrachte. Zuletzt waren Botswana und China bewertet worden.

Die Reaktionen im Genfer Völkerbundsaal, wo 200 bis 300 Teilnehmer anwesend waren, fielen professionell aus – und auch engagiert. „Das ist ja schön“, sagte eine Menschenrechtsbeauftragte aus Uganda, „dass mal ein Land wie Deutschland auf Defizite bei der Einhaltung der Menschenrechte angesprochen wird.“ Die deutsche Delegation bedankte sich für Muñoz’ Bericht – und fragte den Sonderberichterstatter, wie er sich die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Menschen mit Handicaps konkret vorstelle. Muñoz hatte gestern auch einen Bericht über die Bildungssituation behinderter Menschen eingebracht.

Die Reaktionen auf zwei Minuten Muñoz fielen in Deutschland hingegen erneut wütend bis beleidigt aus. Der saarländische Kultusminister Jürgen Schreier (CDU) wies empört zurück, „dass Herr Muñoz so tut, als würden hierzulande Menschenrechte verletzt. Das deutsche Bildungssystem ist kein Fall für amnesty international.“

Deutschlands oberster Gymnasiallehrer, Hans-Peter Meidinger, schmeckte nur „dünnen kalten Kaffee“. Der Sonderberichterstatter sei bei seinem dreitägigen Besuch nur darauf aus gewesen, vorgefertigte Meinungen zu bestätigen. Der costa-ricanische Rechtsprofessor Muñoz hatte vergangenes Jahr zehn Tage lang Bildungseinrichtungen in Deutschland besucht und Experten angehört.

Der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Michael Steiner, sagte, Deutschland werde sich mit dem Bericht auseinandersetzen. Steiner sagte in Erwiderung auf die Muñoz-Ausführungen, nirgendwo in Deutschland sei „eine bewusste bildungspolitische Ungleichbehandlung von Kindern mit Migrationshintergrund erkennbar“. Mit gezielter Sprachförderung in Kindergarten und Schule werde jetzt überall auf Verbesserungen hin gearbeitet. In Diplomatenkreisen wurde deutlich gemacht, dass eine barsche Zurückweisung des thematischen Berichts, wie es in der innenpolitischen Diskussion geschehe, nicht infrage komme. Der Sonderberichterstatter habe die volle Autorität, die Situation des Menschenrechts für Bildung zu evaluieren. Das gelte selbstverständlich auch für Deutschland.

Der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Jürgen Zöllner (SPD, sagte, man nehme die Muñoz-Kritik auf. Die Bundesländer teilten „nicht alle seiner bildungspolitischen Empfehlungen“. Zöllner warnte vor neuem Streit über die Schulstruktur. Wenn sich die Reformdebatte nur darauf konzentriere, „dann werden wir den entscheidenden Schritt nach vorne in der Bildung nicht machen“. Der KMK-Präsident: „Die Schulformen sind sekundär.“ Es gehe vor allem um die pädagogischen Anstrengungen für das einzelne Kind.

Muñoz forderte Deutschland auf, sein mehrgliedriges Schulsystem „noch einmal zu überdenken“. Auch seien Forschungen über den Zusammenhang von Schulstruktur und fehlender Chancengleichheit sinnvoll. Muñoz verweist auf die weltweite Pisa-Studie, wonach in keinem vergleichbaren Industriestaat der Bildungserfolg eines Kindes so abhängig von seiner sozialen Herkunft ist wie in Deutschland. (Siehe unten)

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