: WG zu Kaisers Zeiten
BIOGRAFISCHES Wenig bekannt ist über Rudolf Steiners wilde Jahre: In Berlin stürzte sich der Gründer der Anthroposophie ins brodelnde Metropolenleben
VON ANGELIKA OLDENBURG
Mit Rudolf Steiner verbindet man die erste freie Waldorfschule in Stuttgart oder das Dornacher Goetheanum. Wie eng seine Bindung zu Berlin war, ist weniger bekannt.
Rudolf Steiner zog 1897 aus Weimar nach Berlin, um zusammen mit Otto Erich Hartleben die Herausgabe des Magazins für Litteratur zu übernehmen. In Berlin stürzt er sich in das Brodeln der Jahrhundertwende und scheint auf allen Schauplätzen gleichzeitig tätig sein zu wollen: „Verbrechertisch“ (eine Art alternativer Stammtisch der Literaten) und Alkohol, durchfeierte Nächte, neue Welterklärungen und die soziale Frage, Kurse an der Arbeiterbildungsschule, Anarchismus und Sozialdemokratie, Else Lasker-Schüler und Rosa Luxemburg, Theateraufführungen und Vorträge – von allem viel. Steiners Kontakt mit der Theosophischen Gesellschaft verändert dann drastisch die Haltung seiner Umgebung über ihn – er erlebt sich zunehmend als isoliert. 1912 wird in Berlin dann die Anthroposophische Gesellschaft gegründet.
Ab 1903 lebt Steiner in einer Art Hausgemeinschaft in der Motzstraße am Nollendorfplatz; dort befinden sich auch Verlag, Bibliothek und Versammlungsraum. Selbst als sein Lebensmittelpunkt sich bereits in Dornach befindet, wohnt Rudolf Steiner hier, wenn er in Berlin Vorträge hält. Zur Hochzeit seines Ruhms werden Eintrittskarten auf dem Schwarzmarkt teuer verkauft.
Gekündigt hat Rudolf Steiner seine Berliner Wohnung erst am 10. 11. 1923, einen Tag nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch, als ihm Deutschland zu unsicher zu werden schien. Mit den Worten „Wenn diese Herren an die Macht kommen, kann ich deutschen Boden nicht mehr betreten“ ließ er seine Wohnung auflösen.