: Eichhörnchen speist beim Atomriesen
FEINSCHMECKER Die Aktivistin Cécile Lecomte holt ihr Essen aus dem Müll. Mit der sonntaz ging sie das erste Mal in ihrem Leben ins Sternerestaurant. Es gehört Jürgen Großmann, dem Atomboss
CÉCILE LECOMTE, KLETTERAKTIVISTIN
AUS OSNABRÜCK KIRSTEN KÜPPERS
Es ist nicht so, dass Cécile Lecomte jeden Tag vor einem großen Teller sitzt mit einem kleinen Stück bretonischer Rotbarbe drauf, ein bisschen Couscous neben einem Klecks Schafsmilch. Es ist nicht so, dass Cécile Lecomte jeden Tag zu Mittag isst in einem Restaurant in Osnabrück, das zwei Michelin-Sterne hat und in dem die Kellner weiße Handschuhe tragen.
Ihre Essgewohnheiten sind andere.
Cécile Lecomte ist eine 29 Jahre alte Frau mit kurzen dunkelblonden Haaren und hellen Augen, heute hat sie den schwarzen Kapuzenpullover angezogen, den mit den beiden Anti-Atomkraft-Buttons drauf. Dazu trägt Lecomte eine ausgebeulte rote Hose, die bis zu den Waden reicht. Lecomte wohnt auf einem Bauwagenplatz in Lüneburg. Sie war in ihrem Leben überhaupt erst ein paar Mal in einem Restaurant, erklärt sie. Sie koche lieber selber oder backe Kuchen.
Meistens zieht Lecomte mit ihrem Fahrradanhänger los zum Müllcontainer eines Supermarkts, wenn sie eine Mahlzeit braucht. Aus dem Container fischt sie Essen: Obst, Gemüse, Joghurts, sogar Räucherlachs. „Tolle Sachen“, findet Lecomte. Sie möchte keinen neuen Bedarf erzeugen an Dingen, die eigentlich im Überfluss vorhanden sind. „Diese Wegwerfmentalität finde ich schrecklich, diesen ständigen Verbrauch.“
Cécile Lecomte ist ein Mensch, der mit weniger auskommt als die meisten anderen in diesem Land. Deshalb ist es ein Zusammenstoß von zwei Welten, was hier heute im Sternerestaurant in Osnabrück passiert.
Daheim auf ihrem Bauwagen in Lüneburg hat Lecomte eine Solaranlage. Im Winter heizt sie mit einem Lehmofen. Sie kommt aus Frankreich, dem Land der vielen Atomkraftwerke. Den Kampf gegen die Kernenergie hat sie schon lange aufgenommen, lange bevor sie vor sechs Jahren nach Deutschland umgezogen ist.
Aber erst hier ist Lecomte als Aktivistin bekannt geworden. Sie hat im vorletzten Winter drei Monate in Hamburg in einem Baum gesessen, um gegen den Neubau eines Kohlekraftwerks zu protestieren. Sie ist auf einen Baukran geklettert, um gegen Stuttgart 21 zu protestieren. Den letzten Castor-Transport hat Lecomte fast drei Stunden lang gestoppt, indem sie sich von einer Eisenbahnbrücke bei Kassel abgeseilt hat. Es war dunkel, es war Nacht, Lecomte hing knapp achtzig Meter unter der Brücke, nur wenige Meter über dem Zug mit dem Atommüll-Behälter. Die Polizei war überrascht. Wegen ihrer Kletterei nennen viele Lecomte „das Eichhörnchen“.
Die Rotbarbe ist mit Reiskörnern verziert
Die Idee der Zeitung fand sie gut, sie hat sich heute morgen die Outdoor-Jacke übergeworfen, die Treckingschuhe angezogen, sich in den Zug nach Osnabrück gesetzt. Hat sich aufgemacht in eine Welt, von der sie keine klare Vorstellung hat.
Die über die Rotbarbe gesprenkelten Reiskörner sind getrocknet und kontrastieren angenehm mit dem weichen französischen Fisch.
Jetzt hat sie den Teller mit dem Fisch vor sich, eine Stoffserviette, Kellner fliegen lautlos an den Tisch. Nun sitzt sie hier also in diesem Restaurant mit Namen „la vie“. Und fragt sich, ob die Idee der Zeitung wirklich so gut war.
Denn sie ist nicht nur fremd in Osnabrück und in einem Restaurant. Das Restaurant gehört Jürgen Großmann, Vorstandschef von RWE, einem der größten Energieversorgungskonzerne Europas, dem zweitgrößten Energiekonzern des Landes. RWE produziert, verkauft und verteilt Kohle- und Atomstrom in rauen Mengen. Er misst über zwei Meter. Auf Fotos von Atomverhandlungen der Bundesregierung sieht Angela Merkel neben ihm aus wie ein Spielzeug.
Wenn Cécile Lecomte das Eichhörnchen ist, dann ist er der Riese.
Osnabrück ist nicht der Nabel der Welt, aber es liegt in der Nähe eines Stahlunternehmens, das Großmann ebenfalls gehört. Es gibt nicht viele, die sich ein Mittagessen für 69 Euro aufwärts leisten können. Für Großmann ist es praktisch, ein Lokal zu haben, in das er gehen kann, wenn wichtige Gäste kommen, Dieter Zetsche, der Chef von Daimler war schon da, Bundespräsident Christian Wulff und Merkel.
„Wenn man das Feld des Gegners erkundet, ist das immer subversiv. Das gefällt mir“, hatte Cécile Lecomte vorher angekündigt. Sie hat auch schon mal eine Führung durch ein Atomkraftwerk mitgemacht, obwohl das eigentlich eine Werbeveranstaltung für die Atomindustrie war.
Im „la vie“ sind die Tischdecken cremefarben, schwere Vorhänge halten die Osnabrücker Altstadt draußen, ein Buddhakopf steht an der Wand, aus der Musikanlage rinnt lateinamerikanische Tanzmusik. Aber in den Gesichtern der anderen Gäste liegt keine Erlösung. Ältere Männer mit Anzügen sitzen bei Damen mit steifen Frisuren. „Wenn bei uns auf dem Bauwagenplatz Lagerfeuer ist und Volxküche, dann haben wir es lustiger“, stellt Lecomte fest.
Später will sie auskundschaften, wie man auf das Dach des RWE-Gebäudes von Osnabrück kommt. Aber hier im „la vie“ wird sie kein Geschrei machen, sie wird keine Transparente ausrollen, nicht die Vorhänge hochklettern. „Jede Aktion braucht den passenden Zeitpunkt“, erklärt sie. Lecomte will nur essen und gucken.
Trotzdem, etwas stimmt nicht. So viel ist von Anfang an klar. Es liegt an der Macht, die eine Umgebung ausüben kann. Die Kellner, die auf der Lauer liegen, das gedämpfte Geflüster der anderen. Ein Unwohlsein, das auf Lecomte herunterzufallen droht. Das Gefühl eigener Unzulänglichkeit. Lecomte schiebt nervös den Ellenbogen auf den Tisch, ihre Fingernägel haben schwarze Ränder, sie rutscht den Ellenbogen wieder runter, sie weiß nicht, welches Messer sie benutzen soll. Sie muss aufpassen, dass das Unbehagen nicht umschlägt in eine Attacke gegen sich selbst, dass dieses Experiment nicht aus dem Ruder läuft jetzt. Sie stochert im Essen. „Ziemlich großer Teller für so einen kleinen Fisch“, knurrt sie.
Das Kartoffelschaumsüppchen mit Kürbis-Curry-Eis verursacht kleine Explosionen auf der Zunge. Heiß-kalt. Kleiner Gruß aus der Küche.
Es ist der Tag, an dem die Zeitungen schreiben, dass in Tokio das Wasser knapp wird. Das Beben in Japan ist Wochen her, die Katastrophe noch da. Ihr Gegner, Jürgen Großmann, ist nicht in seinem Restaurant. Lecomte weiß nicht, wie das jetzt weitergehen soll an diesem Tisch. Es ist ein bisschen wie Schattenboxen. Sie spricht über das, was sie in den Nachrichten gehört hat.
Müll? Der Kellner versucht wegzuhören
Gerade ist bekannt geworden, dass RWE beim Verwaltungsgericht Kassel Klage gegen die vorübergehende Abschaltung seines Kernkraftwerks Biblis einreicht, gegen das Moratorium der Bundesregierung. Experten räumen der Klage gute Chancen ein. Der Ausstieg aus der Atomkraft könnte teuer werden für die Menschen im Land. Cécile Lecomte ruft: „Typisch! Gewinne privatisieren, Risiken vergesellschaften.“ Sie hat wieder Tritt gefasst: „Und das Risiko ist genau das Problem bei der Atomkraft.“
„Man muss den Motor am Laufen halten“, sagt ein Mann gerade am Nachbartisch zu seiner Frau.
Cécile Lecomte kennt sich aus mit Gefahren. Sie ist Bergsteigerin. Sie weiß, dass die Natur unberechenbar ist. Sie ist schon oft am Felsen gehangen, die Sonne scheint, im nächsten Moment fällt Schnee. Sie kennt sich aus mit Stürmen, die kommen aus dem Nichts. „Da lernst du die Natur respektieren“, sagt Lecomte. „Da lernst du, dass du die Natur nicht beherrschen kannst.“
Ein Realismus, mit dem sich ihr Kontrahent bislang schwertut. Nach den Geschehnissen in Japan hat Jürgen Großmann in einem Interview erklärt: „Wir können nur hoffen.“ Cécile Lecomte findet: „Das klingt religiös. Ich glaube nicht, dass Religion uns in dieser Situation weiterbringt.“ Das ist kein Vorwurf, das ist eher eine Beschreibung.
Lammrücken im Kräutermantel. Das Fleisch duftet und ist rosa und zart.
Cécile Lecomte hat sich warmgeredet. Der Kellner versucht wegzuhören. Sie erwähnt, dass ihr das Essen aus den Müllcontainern des Lüneburger Supermarkts besser schmecke. Sie spricht von ihren Gefängnisstrafen, den unzähligen Gerichtsverfahren. Den Schmerzen, die Polizisten ihr zugefügt haben bei der Festnahme, als sie ihr die Handgelenke verdrehten. Lecomte ist laut geworden. Polizei, Gefängnis, Polizei, Gefängnis. Die anderen Gäste schweigen.
Es ist das wattige Schweigen, das eintritt, wenn die richtige Welt hereinbricht ins gute Leben.
Guanaja-Schokoladenpraline, Bergamotte, Blutorange als Sorbet. Herb, süß, fruchtig.
Dann steht auf einmal der Koch am Tisch.
Ein bleicher Mann in weißer Kochkleidung, er schwitzt. Er sagt, er fühle sich „reingelegt“. Er fragt mit gepresster Stimme, warum man hier sei. Er fragt, ob Großmann eine Rolle spiele. Er wolle nicht, dass das „la vie“ als „Kantine von Jürgen Großmann“ dargestellt werde.
Erdbebengefahr.
Der Küchenchef gilt als einer der zehn besten Köche Deutschlands. Er könnte sich jetzt auf diese Position zurückziehen. Er könnte jeden Gast gleich behandeln. Aber im Moment redet er nur von Jürgen Großmann. Er ist der verlängerte Arm seines Chefs.
Cécile Lecomte lächelt still. Sie ist das Eichhörnchen. Der Koch des Riesen macht sich wieder auf den Weg in die Küche. Sie sagt: „Diese Aufregung zeigt schon, dass sie sich schlecht fühlen bei dem, was sie tun!“