: Die Katastrophe erklären
GEWISSEN Wie lehrt man Atomkraft? Und wie spricht man im Physikunterricht über Reaktorunfälle? Ein Besuch im Lehrerzimmer
VON STEFFI HENTSCHKE
Als in Japan das Atomkraftwerk Fukushima I explodierte, waren in Hamburg Schulferien. Der Physiklehrer Otto Vollertsen hatte das Thema Atomenergie ein halbes Jahr zuvor mit seiner zehnten Klasse besprochen.
„Eigentlich hätten die Schüler verstehen müssen, was dort passiert“, sagt Vollertsen. Im Lehrerzimmer der Fritz-Schumacher-Schule in Hamburg-Langenhorn riecht es nach Kaffee. Auf dem Regal an der Wand steht Honig von Vollertsens eigenen Bienen. Otto Vollertsen ist 52 Jahre alt und tragt Fleece-Pullover und Jeans. Seit zehn Jahren unterrichtet er an der Schule am Rande Hamburgs. Zwei Physiklehrer sind hier für acht Klassen aus der Mittel- und Oberstufe zuständig.
Eigentlich, sagt er, hätte den Schülern die Gefahr bewusst sein müssen. Aber nach den Ferien wollten sie alles noch mal wissen. Was in Japan passiert ist, fragten sie, bevor er selbst auf das Thema kam. Otto Vollertsen zeigte ihnen den Aufbau eines Reaktors, erklärte, was geschieht, wenn Teile ausfallen.
Ein Stapel Physikbücher
Und dann kam die Frage: Was kann man da machen?
„Plakate malen, die Schulleitung involvieren, auf die große Demonstration gehen – gemeinsam als Schule!“, sagte Vollertsen.
Von einem Schüler weiß er, dass er auf eine Anti-AKW-Demonstration gegangen ist. Aber im Kollegium passiere wenig. „Wir Lehrer sind zu stark damit beschäftigt, die Anforderungen aus der Schulbehörde umzusetzen. Das entpolitisiert“, sagt Vollertsen. Es gibt Schulen, an denen trafen sich in diesen Wochen Lehrer zu Sonderkonferenzen, um den Umgang mit Fukushima im Unterricht zu besprechen.
Durch die großen Fenster des Lehrerzimmers blickt man auf Reihen mit Einfamilienhäusern. Der Stadtteil sei sozial durchmischt, sagt Vollertsen: günstige Mieten, viele Scheidungskinder, die Eltern eher unpolitisch. „Vielleicht ist das das Problem.“ Denn auf ein Erweckungserlebnis hat Vollertsen vergeblich gewartet. „Die große Betroffenheit blieb aus.“
Vollertsen packt einen großen Stapel Physikbücher auf den Tisch. Das Thema Atomenergie steht im Hamburger Lehrplan. Und 2005 beschloss die Kultusministerkonferenz der Länder neue Bildungsstandards. Darin heißt es, die gesellschaftliche Relevanz eines Themas solle im Unterricht deutlich werden.
Das erste Buch, das Vollertsen aufschlägt, ist von 1970. Zu Atomkraft steht darin: „Kernkraftwerke haben eine Reihe von Sicherheitsbarrieren gegen den Austritt radioaktiven Materials, dennoch verbleibt ein Restrisiko.“ Vollertsen schüttelt den Kopf. Er kramt nach dem nächsten Buch, murmelt: „Wieder nix von dem Problem der Endlagerung.“
Referate über Fukushima
Das ändert sich in den Ausgaben ab 1987. „Die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl“ wird auf einer Seite, ab 2009 auf zwei Seiten behandelt. Für Vollertsen, den Tschernobyl geprägt hat, ist das allerdings zu wenig. Er zeigt jeder Klasse einen Dokumentarfilm über die verseuchten Gebiete zehn Jahre nach der Katastrophe, vergibt Kurzvorträge.
In Referaten wird er Fukushima behandeln. Die Humboldt-Universität Berlin gab schon eine Handreichung für Lehrer heraus. 13 Seiten, eine zu „Wirkungen auf den menschlichen Körper“. Otto Vollertsen, der 1986 seinen Gemüsegarten wegen der verstrahlten Erde umgrub, liest vor: „Die Spätfolgen werden unterteilt in maligne (bösartig wuchernde, z. B. Leukämie) und nicht maligne (nicht bösartig, z. B. Unfruchtbarkeit) Spätschäden.“
„Man muss sich das mal überlegen“, sagt er. „Stell dir vor, dein Kind hat wegen dieses Restrisikos Leukämie. Das ist doch eine Lebenskatastrophe!“ Vollertsen klingt, als spräche er zu seinen Schülern. Schon seit Wochen habe es von ihnen keine Nachfragen mehr gegeben.