Ich will was von dir

In den USA gelang Marisha Pessl mit ihrem Debüt „Die alltägliche Physik des Unglücks“ der Überraschungserfolg des letzten Jahres. Nun erscheint das elegante Verwirrspiel auf Deutsch

VON TOBIAS RAPP

Sie sieht wirklich super aus. Um diesen Satz gibt es kein Drumrum. Nicht notwendigerweise wegen des tatsächlichen Aussehens von Marisha Pessl – es ist das Foto von ihr im Buchumschlag, zu dem sich jeder Leser und jede Leserin ihres Romans „Die alltägliche Physik des Unglücks“ irgendwie verhalten muss. Man nimmt das Buch zur Hand, blättert ein wenig herum und schlägt schließlich den hinteren Buchumschlag auf. Und da schaut sie einen dann an. Lange, dunkelblonde Haare, schmales Gesicht, leicht geöffneter Mund und ein Blick, der einem zu sagen scheint: Ich will was von dir.

So ist es natürlich auch. Marisha Pessl möchte, dass man ihr zuhört. „Die alltägliche Physik des Unglücks“ ist ihr Debütroman, 28 Jahre ist sie alt, in den USA war das Buch ein Überraschungserfolg, der es im vergangenen Jahr bis in die Jahresbestenliste der Kritiker der New York Times schaffte. Nun sollte man nie den Fehler machen, die Autorin eines Buchs mit ihrer Hauptfigur zu verwechseln. Das Interessante von „Die alltägliche Physik des Unglücks“ ist allerdings, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil seines Charmes auf dem identifikatorischen Verwirrspiel beruht, das Pessl zwischen sich und ihrer Hauptfigur Blue van Meer aufzieht und dem man sich nur schwer entziehen kann.

Blue van Meer ist eine Studentin, die im Wohnheimzimmer ihrer Universität sitzt und versucht, per Erzählung ihr aus den Fugen geratenes Leben zusammenzusetzen. Es gibt eine tote Lehrerin zu beklagen und ein kompliziertes Puzzle rund um die Frage zusammenzusetzen, wie es so weit kommen konnte. Was das so attraktiv macht, ist die Figur von Blues Vater, dem linken Politologen und Weltenbummler Gareth van Meer, der Blue nach dem Tod der Mutter alleine großgezogen hat.

Gareth van Meer ist ein Vater wie vom bohemistischen Wunschzettel. Ein brillanter Professor, der die große Karriere an einer Ivy-League-Universität ausgeschlagen hat, um stattdessen über die Lande zu ziehen und an kleinen Provinzunis zu lehren – nie länger als ein Semester pro Universität, dann geht es weiter. Währenddessen erzieht er seine Tochter mit Sinnsprüchen aus dem Erfahrungsschatz des so weitgereisten wie pragmatisch gewendeten Altlinken. Das kombiniert er mit Vorträgen über die Weltlage. Bei den Autofahrten kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten lässt er Hunderte von Büchern vorlesen. Was sich wiederum im Stil des Buchs niederschlägt, das von der Idee getragen ist, seine Geschichte in Form einer endlosen Leseliste zu erzählen – die einzelnen Kapitel heißen nach Romanen der Weltliteratur.

Auch das wieder: eine großartige Idee, lädt Pessl doch so in eine Parallelwelt ein, in der nicht Pop und Fernsehen die Leitmedien sind, sondern die Literatur. Ein Konzept, das zum letzten Mal wahrscheinlich zu Zeiten der deutschen Romantik vor 200 Jahren tatsächlich griff. Ziemlich aus der Zeit gefallen also, aber ein Angebot, das man trotzdem ungerne ausschlägt, schlägt es doch den Bogen zu diesem attraktiven Wunschvater, dem man als Leser genauso gerne zuhört wie als Tochter.

Am Ende ist natürlich nichts, wie es lange schien, doch wie es Marisha Pessl gelingt, Collegeroman und Schauergeschichte, Verschwörungsroman und Coming-of-age-Erzählung zu verbinden, ist äußerst gelungen. Denn Pessl hält geschickt die Balance zwischen genuinem Interesse an ihren Charakteren – all diesen bezaubernd genau gezeichneten Klassenkameradinnen von Blue und den Exfreundinnen von Gareth van Meer – und ihrem Talent, all diese Figuren gleichzeitig in ihrer vollen Pappkameradenhaftigkeit zu beschreiben.

Trotzdem, das Buch ist ungefähr 150 Seiten zu lang, und man legt es zwischenzeitlich nur deshalb nicht weg, weil es erfolgreich das Gefühl vermittelt, ein überraschender Dreh kurz vor Schluss werde einen für diesen Durchhaltewillen belohnen (was auch tatsächlich so ist, und wie!). Der größte Einwand dürfte aber ein anderer sein: „Die alltägliche Physik des Unglücks“ leidet unter dem Luxusproblem vieler amerikanischer Debüts. Es ist einfach zu gut geschrieben, Pessl beherrscht die Konventionen ein bisschen zu perfekt.

Unweigerlich kommt der Zeitpunkt, wo man nur noch möchte, dass jemand einfach mal ein Fenster aufreißt, anstatt dass so etwas passiert: „Nigel hatte ein Fenster geöffnet. Ein welpenartiger Windstoß wirbelte durchs Esszimmer, sodass mir die Papierservietten vom Schoß flogen und die Flammen auf den Kerzen wie verrückt gewordene Ballerinas zu tanzen anfingen. Ich konnte nicht fassen, was Nigel getan hatte – er benahm sich wie ein eifersüchtiger Ehemann, der seiner Frau einen entlarvenden Manschettenknopf unter die Nase hält.“ Diese Wie-Konstruktionen liebt Pessl mit niemals nachlassender Virtuosität, immer ist irgendetwas wie irgendetwas anderes – eine Stilfigur, die sie durch die ständig eingeschobenen Zitate aus realen oder erfundenen Büchern der Weltliteratur, linksradikaler Geschichtsschreibung und Politologie sowie Naturwissenschaft und Schauspielerbiografik noch doppelt.

Marisha Pessl: „Die alltägliche Physik des Unglücks“. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 604 Seiten, 19,90 Euro