Die starke Stimme der Opfer

Der Historiker Saul Friedländer, 74, erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse für seine herausragende Studie „Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Vernichtung 1939–1945“ (C. H. Beck, 34,90 €). FOTO: AP

Der Historiker Saul Friedländer ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Forschern, die sich mit der Ermordung der europäischen Juden beschäftigen. Zu Recht erhielt er nun den Preis der Leipziger Buchmesse für den zweiten Band seines Werks „Das Dritte Reich und die Juden“.

Friedländer wurde 1932 als Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Prag geboren. Nach der Besetzung Prags 1939 floh er mit seinen Eltern nach Frankreich. Nachdem die Eltern 1942 deportiert und in Auschwitz ermordet wurden, überlebte Friedländer in einem katholischen Internat. Sechs Jahre später wanderte er nach Palästina aus und studierte in Tel Aviv. Er promovierte 1963 und arbeitete danach am Genfer Institut für Internationale Studien als Professor bis 1976. Danach lehrte er in Israel, in den USA sowie als Gastprofessor an verschiedenen europäischen Universitäten. Für seine zahlreichen Bücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 1998 mit dem Geschwister-Scholl-Preis.

Wie kein anderer Historiker versteht es Friedländer, die Perspektiven der Täter mit jenen der Opfer und Zuschauer zu verschränken. Stets berichtet er nicht nur objektive Tatsachen oder strukturelle Zusammenhänge, sondern erzählt zugleich von den individuellen Schicksalen. Zu seinen Quellen gehören ebenso die Akten von zivilen und militärischen Behörden, die Reden und Schriften von Tätern wie auch gleichberechtigt die Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, Familienchroniken und Fotos der Opfer.

Ein realistisches und zugleich den Opfern moralisch gerecht werdendes Bild der Judenvernichtung ergibt sich nur aus dieser dreifachen Optik von „Tätern, Opfern und Zuschauern“ – so der Titel eines Buches von Raul Hilberg. In den 80er Jahren tobte ein Richtungsstreit zwischen deutschen Historikern. Auf der einen Seite standen „Funktionalisten“, also jene Historiker, die im bürokratischen Zusammenspiel verschiedener Behörden den Schlüssel für die Erklärung des Judenmords sahen; auf der anderen Seite suchten „Intentionalisten“ die Judenvernichtung aus den Motiven und Absichten der prominenten Akteure zu erklären. Friedländer zielte schon damals auf eine Synthese zwischen beiden Ansätzen.

Friedländers Bücher erregen das Publikum nicht mit Horrorbeschreibungen, sondern mobilisieren die Erinnerung an die Leiden und den Schmerz der Opfer, um das ganze Ausmaß der Verbrechen zu verdeutlichen und begreifbar zu machen. Von kommerzialisierten und fernsehgerecht inszenierten Geschichtsdarstellungen, die Gewalt und Tod sprachlich und optisch verkitschen, hat sich der Historiker mehrmals abgesetzt. RUDOLF WALTHER