piwik no script img

Archiv-Artikel

Für alle Fälle Agnes

INNOVATIV Um die medizinische Versorgung auf dem platten Land zu verbessern, gibt es in Brandenburg Fallmanagerinnen. Sie betreuen chronisch Kranke, Alte und Pflegefälle

„AGnES ist billiger als ein Erste-Hilfe-Wagen. Und menschlicher“

JÜRGEN SADOWSKI, ARZT

AUS WOLTERSDORF SIMONE SCHMOLLACK

Frau O. muss ins Krankenhaus. Morgen schon. Sie ist alt und weiß nicht, was sie in die Klinik mitnehmen soll. Handtücher? Hausschuhe? Welche Medikamente? „Kein Problem“, sagt Monique Herrmann: „Ich kümmere mich darum.“

Monique Herrmann steht am Tresen der Arztpraxis von Jürgen Sadowski im brandenburgischen Woltersdorf in der Nähe von Berlin. Für die 24-jährige medizinische Fachangestellte ist Frau O. so was wie ein klassischer Fall. Denn Monique Herrmann ist nicht nur Sprechstundenhilfe, wie ihr Beruf früher genannt wurde, sondern auch „Fallmanagerin“, eine bundesweit neue Qualifikation: Monique Herrmann füllt Formulare und Anträge für die Kranken- und Pflegekasse aus, vereinbart Termine bei Fachärzten, verhandelt mit dem Hauspflegedienst. Sie bestellt im Sanitätshaus Rollatoren und Wannenlifte, die den Leuten nach Hause geliefert werden, sie geht die Medikamentenliste von Kranken durch.

Dass Monique Herrmann das alles machen kann und darf, verdankt sie AGnES zwei. So nennt sich ein bundesweit einzigartiges Pilotprojekt in Brandenburg: Rund neunzig medizinische Fachangestellte wurden seit zwei Jahren zu Fallmanagerinnen ausgebildet, sie sind die „rechte Hand“ der Ärzte. Sie nehmen ihnen bürokratische und organisatorische Arbeiten ab und betreuen all jene Patienten besonders intensiv, die in ihrer Mobilität eingeschränkt und auf mehr Hilfe angewiesen sind: chronisch Kranke, Alte, Pflegefälle.

Ausgeschrieben verbirgt sich hinter AGnES ein Wortungetüm: Arztentlastende Gemeindenahe E-Health-gestützte Systemintervention. Der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, die sich das Projekt zusammen mit den Kassen AOK Nordost und Barmer ausgedacht hat, drückt es etwas unkomplizierter aus: „delegationsfähige Leistungen“.

Monique Herrmann übernimmt Aufgaben, die der Arzt oder die Ärztin abgeben kann: kleinere medizinische Aufgaben und bis zu achtzig Prozent der bürokratischen Tätigkeiten in der Praxis.

Auch wenn sich der Vergleich anbietet, AGnES hat nichts mit „Schwester Agnes“ zu tun, jener Kult-Krankenschwester des DDR-Fernsehens der 70er Jahre, die damals auf ihrer weißen Schwalbe über die Dörfer brauste und überall dort den Arzt ersetzte, wo es ging.

Jürgen Sadowski, 58, ist froh, dass er Monique Herrmann hat. Täglich kommen 50 bis 60 Patienten in seine Praxis, etwa 1.250 sind es im Quartal. Üblich in Brandenburg sind im Quartal durchschnittlich 1.000 Patienten. Aber es gibt medizinisch unterversorgte Regionen, jene an der „Peripherie“, wie Sadowski es ausdrückt, da haben Ärzte auch schon mal bis zu 2.000 Patienten in drei Monaten.

Brandenburg hat den größten Ärztemangel im gesamten Bundesgebiet – ein politischer Dauerbrenner, vor allem für die Brandenburger Landtagswahl am 14. September. Bei Sadowski geht die Praxistür unablässig auf und zu, jede Minute taucht jemand Neues auf. Mancher braucht nur rasch ein Rezept, andere reichen dicke Befunde über den Tresen. Die meisten aber setzen sich ins Wartezimmer, sie brauchen eine ausführliche Behandlung.

Der Alterdurchschnitt der Woltersdorfer in Sadowskis Praxis liegt bei 65. „Die meisten sind sehr krank und viele von ihnen chronisch“, sagt der Arzt. Sie brauchen mehr Zuwendung, mehr Ansprache und mehr Hilfe. Wie oft muss ich denn nun zur Physiotherapie? Mit den Krücken kann ich mich in meiner Küche nicht bewegen. Wann muss ich die nächste Pille nehmen? Viele solcher Fragen beantwortet nicht Jügen Sadowski, sondern Monique Herrmann.

Als Sadowski von AGnES hörte, dachte er sofort an AGnES eins, den Vorläufer der jetziges AGnES, ein von Greifwalder Wissenschaftlern erdachtes Projekt, das ebenfalls in Brandenburg getestet wurde. Die Idee: Medizinische Fachkräfte fahren zu den Patienten nach Hause, sie nehmen ihnen Blut ab, geben ihnen Spritzen, messen ihren Blutdruck, genauso wie die „rollende Fernseh-Agnes“.

Aber AGnES eins floppte, schon nach kurzer Zeit. Denn Schwestern durften ausschließlich von einem Hausarzt losgeschickt werden und nur in unterversorgten Gebieten agieren. Sie hätten also viel und weit fahren müssen. Und sie durften nur Patienten über 65 Jahre mit Pflegestufe II behandeln. Viel zu teuer, warnten die Krankenkassen – und strichen kurzerhand die Fahrtkostenpauschalen und die Honorare. Die Ärzte reagierten prompt: Sie schickten keine „rollende Agnes“ mehr los. Lediglich eine Handvoll fahrender Gemeindeschwestern soll es in Brandenburg noch geben.

10 Uhr, Monique Herrmann macht sich fertig für ihren „Außendienst“. Sie schnappt sich eine schwarze Medikamenten- und Instrumententasche, die aussieht wie eine fürs Laptop, und zieht sich eine schwarze Jacke über ihre weiße Praxiskluft. In der nächsten halben Stunde wird sie bei zwei über 80-jährigen Frauen in einer Tagesklinik ein paar Straßen weiter Blut abnehmen und im nächsten Ort bei einem Mann, der nur noch schwer laufen kann, den Blutdruck messen. Mit dem Auto braucht Monique Herrmann gerade mal zehn Minuten, bis sie bei den beiden alten Damen in der Tagesgruppe und bei dem immobilen Mann zu Hause ist. Der Mann selbst wäre mehr als einen halben Tag unterwegs, mit dem Bus, der Bahn und den Wartepausen zwischendurch. „Das kann man niemandem zumuten“, sagt Monique Herrmann.

Praxen in ländlichen und strukturschwachen Regionen profitieren von AGnES zwei, da ist sich Jürgen Sadowski sicher. Während in Städten wie Berlin, München, Hamburg oder Dresden, in denen die Praxisdichte hoch, die Wege kürzer und die Menschen jünger und mobiler sind, das Modell unnötig ist.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung geht von rund 7.000 fehlenden ÄrztInnen aus, 3.600 Stellen könnten sofort besetzt werden. Alle Gesundheitsminister – erst Daniel Bahr von der FDP und jetzt Hermann Gröhe von der CDU – versuchen daher, junge Fachkräfte aufs Land zu locken: mehr Geld, mehr Privilegien.

In manchen Gegenden werden Ärzten fertige Praxen angeboten, sie könnten sofort anfangen zu arbeiten. Anderswo wird ein Haus dazu geboten.

Brandenburg setzt auf den Nachwuchs: Das Land lockt Medizinstudentinnen damit, die Studienkosten teilweise zu übernehmen, wenn sich die jungen Fachkräfte im Gegenzug verpflichten, für einige Jahre in der Region zu arbeiten.

Aber die Zahl der Landärzte will nicht so recht steigen. Deshalb seien die AGnES-Fallmanagerinnen so wichtig, meint der Arzt Sadowski. Er nennt ein Beispiel: Eine alte Frau kippt zu Hause um. Das kann auf dem Land jederzeit passieren. Nun könnte der Krankenwagen gerufen werden, der die Frau in die nächste Klinik bringt.

Es kann aber auch eine AGnES kommen, könnte ja sein, dass die Frau einfach nur vergessen hat, ihre Kreislauftabletten zu schlucken. „Eine AGnES ist billiger als ein Erste-Hilfe-Wagen“, sagt Jürgen Sadowski: „Und menschlicher.“