: Ist es sinnvoll, Flüchtlinge privat aufzunehmen?
BLEIBE Menschen flüchten. Vor Armut, Kriegen, Katastrophen oder Verfolgung. Ihnen ein Zimmer zu bieten, sehen einige als solidarische Pflicht, andere als Scheitern des Staates
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.
Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.
JA
Martin Patzelt, 67, Bundestagsmitglied der CDU, hat die Diskussion angestoßen
Ich kann die Aufregung über meinen Vorschlag schwer nachvollziehen. Es geht darum, über eine temporäre, unentgeltliche und freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen im eigenen Wohnraum nachzudenken. Eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten kann. Bürgerschaftliches Engagement ist eine wesentliche Voraussetzung unseres Miteinanders und existiert in vielfältiger Weise. Bisher habe ich keinen Protest gegen solches Engagement bemerkt. Kriegsflüchtlinge haben Heimat, Besitz und Familie verloren. Kann es da verkehrt sein zu prüfen, ob man persönlich solchen Menschen – alternativ zu einer Massenunterkunft – Unterstützung anbietet? Wenn weiterhin Lebensunterhalt und Krankenkosten aus Steuermitteln finanziert bleiben, die Entscheidung nach einem persönlichen Kennenlernen getroffen wird, dann kann eine solche Vereinbarung das eigene Leben bereichern.
Günter Burkhardt, 57, ist Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl
Pro Asyl tritt dafür ein, dass Menschen in Wohnungen statt in Containern, Zelten oder maroden Großunterkünften untergebracht werden: Die Isolation wird durchbrochen, die Integration erleichtert und die Stadtkasse entlastet. Dabei können auch Einzelne helfen. In Hildesheim haben Bürgerinnen und Bürger der Stadt zahlreiche Mietwohnungen zur Verfügung gestellt, der Bau neuer teurer Flüchtlingslager konnte so vermieden werden. Auch die private Unterbringung kann sinnvoll sein: Beiderseitiges Einvernehmen vorausgesetzt. Wohnsitzregelungen, die verhindern, dass Flüchtlinge bei Bekannten und Verwandten einziehen können, gehören abgeschafft. Private Initiativen können ein staatliches Aufnahmekonzept jedoch nur ergänzen, nicht ersetzen: Die Politik muss Konzepte entwickeln, die den zügigen Auszug aus den Sammelunterkünften ermöglichen und Flüchtlingen erlauben, sich selbst zu versorgen, die Sprache zu erlernen und zu arbeiten.
Turgay Ulu, 41, ist selbst geflüchtet und kämpft für ein besseres Asylrecht
Ich finde es grundsätzlich gut, wenn Menschen bereit sind, Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufzunehmen. Die meisten Menschen, die hier Asyl beantragen, sollen jedoch einfach wieder abgeschoben werden. Es gibt sehr viele Flüchtlinge, die hier bleiben möchten, es aber nicht dürfen. Eine private Unterbringung allein kann daher nicht die Lösung sein. Das eigentliche Problem liegt in der Gesetzgebung: Wegen der EU-Verordnung Dublin II haben die meisten Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, hier kein Bleiberecht.
Joachim Wieland, 63, ist Professor für Öffentliches Recht an der Uni Speyer
Deutschland will mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Das sollte sich nicht auf Waffenexporte in Krisengebiete beschränken, sondern auch humanitäre Hilfe einschließen. Die Bereitschaft, das Flüchtlingselend durch die private Aufnahme der Flüchtlinge zu lindern, ist zu begrüßen. Gesetze brauchen dafür nicht geändert zu werden. Die Behörden müssten nur sicherstellen, dass für Lebensunterhalt, Krankenversicherung usw. gesorgt ist. Das kann durch Verwaltungsvorschriften geschehen. So könnte der Mangel an Unterkünften etwas entschärft werden. Deutsche haben vor der Verfolgung der Nationalsozialisten vergleichbaren Schutz im Ausland gefunden. Wer möchte, kann helfen, niemand wird gezwungen und der Steuerzahler wird so entlastet.
NEIN
Rita Schillings, 56, ist Geschäftsführerin beim Flüchtlingsrat Leverkusen
Prima, wenn Herr Patzelt die Bevölkerung ermutigt, Flüchtlinge in der eigenen Wohnung aufzunehmen. Die Ermutigung geht indes an der Realität vorbei. Viele Menschen haben längst ihre Bereitschaft erklärt, syrische Flüchtlinge, die noch nicht in Deutschland sind, bei sich aufzunehmen. Das Problem ist: Deutsche Aufnahmeprogramme sehen vor, dass die Aufnahmewilligen auch für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge aufkommen müssen. Das könnensich die wenigsten leisten und der Staat entzieht sich damit der Versorgungspflicht. So bleibt den syrischen – wie allen anderen Flüchtlingen auch – nur der gefährliche Weg nach Deutschland, um hier einen Asylantrag zu stellen. In Leverkusen haben wir vor 12 Jahren gemeinsam mit der Caritas und der Stadt das „Leverkusener Modell“ entwickelt. Dieses erlaubt Flüchtlingen, die im Asylverfahren sind, eine eigene Privatwohnung zu beziehen – und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. Sie sind so nicht auf die Gnade anderer angewiesen, sondern können selbstbestimmt und unter Achtung der Privatsphäre leben. Köln und andere Städte praktizieren dies auch schon erfolgreich.
Sanchita Basu, 61, arbeitet für die Berliner Opferberatungstelle ReachOut
Ich kenne diese Problematik, weil ich Intervisionen für SozialarbeiterInnen mache, die mit Geflüchteten arbeiten. SozialberaterInnen fragen sich häufig, ob sie geflüchtete Menschen in ihren Wohnungen aufnehmen sollen – denn diese können aus unterschiedlichsten Gründen keine Unterkunft haben. Ich finde das Aufnehmen in Privatwohnungen aber problematisch, denn Geflüchtete entscheiden sich nicht freiwillig für diese Wohngemeinschaften, sondern aus der Not heraus. Sie sind also keine normalen WG-PartnerInnen, sie sind unterstützungsbedürftig. Das sollte jeder Privatmensch bedenken. Bei BeraterInnen stellt sich zudem das Problem, dass sie eine professionelle Distanz brauchen, die aber durch ein Zusammenleben gefährdet wird. Doch wenn es um die Frage geht, ob ein Mensch auf der Straße übernachtet oder bei jemandem zu Hause, dann ist es natürlich eine Frage der Abwägung.
Dieter Dombrowski, 63, ist Landtagsabgeordneter in Brandenburg (CDU)
Private Gastfreundschaft ist gut, aber der Staat hat seine Pflichten gegenüber deutschen Staatsbürgern wie Flüchtlingen gleichermaßen zu erfüllen. Staatliche Fürsorge soll und kann also nicht durch Gastfreundschaft ersetzt werden. Wer Flüchtlinge aufnehmen möchte, kann dies tun. Finanzielle Gegenleistungen sollte der Staat jedoch nicht gewähren. Was ist, wenn der Gastgeber „die Nase voll hat“?
Matthias Rudolph, 50, ist taz-Leser und hat die Frage per E-Mail kommentiert
Wer Flüchtlinge bei sich aufnimmt, ist für mich ein guter Mensch, aber das Problem der angemessenen Unterbringung kann so nicht gelöst werden. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, zu deren Bewältigung der Staat durch Steuereinnahmen Mittel hat und diese einsetzen sollte. Auch aus Sicht der Gäste ist eine private Unterbringung nicht so angenehm, wie es zunächst erscheint. Sie sind immer in der passiven Dankesrolle und fühlen sich stets ihrem Gastgeber verpflichtet. Zwischenmenschliche Konflikte sind vorprogrammiert. Aber: Private Patenschaften könnten ein Mittelweg sein – eine Flüchtlingsfamilie etwa bei Behördengängen begleiten oder miteinander Deutsch lernen.