: Das Spiel mit dem Feuer
Wer sich als Funktionsträger in der Landes-SPD gegen Stuttgart 21 stellt, wird kaltgestellt. Die Grünen klagen über die „beinharte Ignoranz“ der SPD-Verhandler in der Koalitionsrunde. An der Basis der Partei formiert sich derweil Widerstand gegen die Oberen in Stuttgart
von Josef-Otto Freudenreich
Draußen blüht der Flieder, und drinnen feilt Klaus Riedel an einer Rede, die so gar nichts Frühlingsfrohes hat. Es ist eine Abrechnung mit seiner Partei, der er seit 40 Jahren angehört. Mit der SPD. Sie führe das Volk in die Irre, wird er am nächsten Tag den Demonstranten zurufen, die wieder einmal zu Tausenden auf dem Stuttgarter Schlossplatz stehen. Und er weiß, dass ihn die Spitzengenossen dafür wieder abstrafen werden. Mit schlichtem Nichtbeachten. Er kennt das Schicksal von Peter Conradi, bei dem sie in der Parteizentrale nur noch müde abwinken.
Klaus Riedel war früher Lehrer für Geschichte und Politik am Georg-Büchner-Gymnasium in Winnenden, heute ist er Pensionär und Fraktionschef der SPD-Fraktion im Waiblinger Gemeinderat. Mit dem verstorbenen Hermann Scheer war er befreundet, und auch deshalb weiß er, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein. Scheer, der Träger des Alternativen Nobelpreises, war ein international angesehener Politiker, für die Stuttgarter SPD-Spitze eher ein Querulant, der die provinziellen Kreise störte. „Den Hermann“, erzählt der 65-Jährige, „konnte ich eigentlich nur noch mit Zwetschgenkuchen ins Land locken.“
Wolfgang Drexler und Claus Schmiedel verstehen solche Leute nicht. Der eine, Ex-Mister Stuttgart 21, hatte es nach kurzen Versuchen aufgegeben und sich der Frage zugewandt, ob er auch als zweiter Landtagsvizepräsident noch Anspruch auf Dienstwagen und Chauffeur hat. Vom Zweiten, dem SPD-Fraktionschef, wird berichtet, er habe nur drei Themen im Kopf: 1. Wirtschaft, 2. Wirtschaft und 3. Wirtschaft, und deshalb wolle er jetzt schnell Bagger sehen. Nils Schmid, der neue Obergenosse wiederum, dem allgemein eine höhere Rationalität zuerkannt wird, ist zwischen beiden eingemauert.
Schmiedel möchte, dass die Schlote rauchen
Mit diesem Trio verhandeln die Grünen nun zum dritten Mal. Die Vierte im Bunde, die Tübinger Abgeordnete Rita Haller-Haid, fällt nicht weiter auf und zieht es vor zu schweigen, weshalb ihre Position im Vagen bleibt. Und Ivo Gönner, der öffentlich benannt war, sitzt nicht dabei. Er schickt lieber seine Sympathisanten. Mit dem Zug zur Pro-Demo. Auch die Genossin Birgit Dahlbender vom BUND, die ihren Sachverstand angeboten hatte, fehlt.
Wenn man dem Quartett Kretschmann, Hermann, Palmer und Wölfle Glauben schenken darf, bewegen sich die Wortmeldungen auf hohem Niveau. Drexler schreie immer „geht net, machet mir net“, Schmiedel fordere ebenso lautstark, die Schlote müssten rauchen, und Schmid erkläre die S-21-Gegner kurzerhand zur minimalen Randgruppe, mit der die Medien ihr letztjähriges Sommerloch gefüllt hätten.
Das muss Andreas Reißig dementieren. Nicht den rauen Ton, die „Randgruppe“ schon. Das habe er Schmid noch nie sagen hören, betont der Pressesprecher der SPD. Der Mann in den roten Schuhen verfolgt die Gespräche und ärgert sich seinerseits über die „Arroganz“ von Boris Palmer. Eine „Kuschelrunde“ hätten die Herren nicht erwarten dürfen, murrt Reißig, nachdem sie ihnen „jahrelang das Wasser abgegraben“ hätten. Gerade mit diesem Thema. Womöglich haben die Grünen gedacht, jetzt, wo es ums große Ganze, sprich ums Regieren geht, würden die Sozis handzahm werden. Der Bahnhof sei doch der Knackpunkt für die Koalition, heißt es landauf, landab. Darüber könne sie sogar kippen, bei den denkbar knappen Mehrheitsverhältnissen.
Womöglich hat Kretschmann geglaubt, er könne seinen Junior Schmid erschrecken, wenn er ihn am Anfang davor warnt, die Leute zu verscheißern, sonst sei die grün-rote Veranstaltung in fünf Jahren zu Ende. Weit gefehlt. Stattdessen registrieren die Grünen „beinharte Ignoranz“, wie einer schimpft, und sie fragen sich, ob sie hier eigentlich mit der Bahn verhandeln oder mit der CDU.
Selbst Tanja Gönner, vergleicht einer, sei dagegen ein Ausbund an Kompromissfähigkeit. Sie sind zutiefst frustriert, „ratlos“, wie sie bekennen, abgewatscht „wie Bittsteller“, klagen sie. Gewirkt hat es schon. Der noch zu wählende Ministerpräsident will jede Konfrontation vermeiden und weitere Kröten schlucken.
Ein verlängerter Wahlkampf
Was das bedeuten kann, ist an drei entscheidenden Punkten abzulesen:
Die Kosten: Schmid & Schmiedel betonen, dass ihre Schmerzgrenze bei 4,5 Milliarden Euro liegt. Darüber gehe nichts. Aber was heißt das schon? Sie sagen nicht, was passiert, wenn der Betrag, wie zu erwarten, überschritten wird. Bisher ist nur klar, dass die Bahn in diesem Fall mit dem Land sprechen muss. Ob die gewählten Vertreter des Volkes dann zu Bahnchef Rüdiger Grube sagen können: wir zahlen nix, wir steigen aus, oder ob sie brav die Mehrkosten mittragen, lässt die SPD offen. Nicht eingerechnet sind auch die Kosten für Heiner Geißlers „S 21 plus“ und die Nachbesserungen nach dem Stresstest, die bis zu einer Milliarde Euro betragen können. Wer soll das bezahlen? Antwort Fehlanzeige. Die Grünen sind schon froh darüber, der SPD den Passus abgerungen zu haben, grundsätzlich müssten beide Koalitionspartner zustimmen. Das lässt einen fröhlichen verlängerten Wahlkampf erwarten.
Der Stresstest:
Darauf ruhen die (letzten) Hoffnungen der Grünen. Er soll die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs nachweisen, und er wird es, nach ihrem Kalkül, nicht können – oder viel zu teuer werden. Bekanntermaßen ist Grube anderer Meinung und größter Auftraggeber der Schweizer Firma SMA, die seine Daten verarbeitet. Zum Wohlgefallen seines früheren Sprachrohrs Drexler, der die Grünen kalt abfahren lässt mit ihrer Forderung, das Bahnmaterial von anderen Gutachtern prüfen zu lassen. Das koste nur Zeit und Geld. Wer sich erinnert, mit welcher Geheimniskrämerei die Bahn ihre Unterlagen behandelt hat, mit welchen Strafen sie Informanten belegen wollte und wie sie nur scheibchenweise mit der Wahrheit herausrückte, wird das Misstrauen der Grünen nachvollziehen können. Aber auch damit laufen sie gegen eine Wand. Eine unabhängige Prüfung, veranlasst durch die Landesregierung, wollen die SPD-Granden nicht. Dies sei, notiert die andere Seite in aller Hilflosigkeit, ein Punkt „besonderer Strittigkeit“.
Die Volksabstimmung:
Was anfangs wie eine Verzweiflungstat der SPD-Spitze aussah, entpuppt sich inzwischen als nahezu genialer taktischer Schachzug. Nachdem die Partei in einer „Flut von Protesten“ (Reißig) schier ertrunken ist, hat Schmid den Damm geöffnet, dem Bürger erzählt, auch die SPD höre ihn – bis klar war, dass die Abstimmung eigentlich nur ein Ergebnis haben konnte. Pro S 21. Oder sollten wirklich 2,54 Millionen Baden-Württemberger gegen einen Stuttgarter Bahnhof an die Urne gehen? Mit Lust an der Schadenfreude ziehen die Sozis heute Beschlüsse aus der Schublade, in denen die Grünen ebenfalls eine Volksabstimmung fordern.
Das ist den Roten nicht zu verdenken. Eine Partei, die sich die Bürgerbeteiligung auf die Fahnen geschrieben hat, kann sich davon nicht verabschieden. Da helfen keine juristischen Tricks, keine Debatten über Quoren und kein Jammern über die SPD-Hardliner, denen zumindest eines nicht vorzuwerfen ist: dass sie je gegen Stuttgart 21 waren. Vielleicht haben die Grünen das auf ihrem Höhenflug vergessen.
Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Auf beiden Seiten, mit denselben Regeln, aber mit unterschiedlichen Prämissen. Die Grünen wissen sehr genau, dass Stuttgart 21 der Lackmustest ist für sie. Wenn sie hier nicht stehen, ist es um ihre Glaubwürdigkeit geschehen. Da mögen sie mit Fingern auf die böse SPD zeigen, darauf verweisen, dass sie auf dem Sprung ins Bett der CDU sei, Andrea Ypsilanti und Heide Simonis als Menetekel an die Wand malen. Es hilft alles nichts. „Wir dürfen und werden die Bewegung nicht verraten“, sagt Werner Wölfle, „das ist das A und O.“ Knickten sie ein, wäre das Verrat. Sein Vorschlag, die Verhandlungen auszusetzen und mit frischen Kräften zu beschicken, ändert daran nichts.
Die Gewissheit, an den Fleischtöpfen zu sitzen
Genossen wie Drexler und Schmiedel haben damit wenig Probleme. Für sie ist es ein machtpolitisches Spiel – mit der schwarz-roten Option im Hinterkopf, ohne Stefan Mappus, aber mit der Gewissheit, an den Fleischtöpfen zu sitzen. Eindeutige Beschlüsse ihrer Landesparteitage haben sie souverän ignoriert, genauso wie die Haltung ihrer Mitglieder, die zu 50 Prozent gegen den Tiefbahnhof sind. Die Frage wäre dann nur, um wie viele Prozente die Partei noch weiter absackt. Fernab der Basis, gesellschaftlicher Prozesse und der Gedanken Andersdenkender. Das ist kein Überlebens- und kein Wahlmotiv.
Klaus Riedel, der alte Sozialdemokrat, stellt sich alle diese Fragen. Es gehöre viel Selbstdisziplin dazu, aus der Partei nicht auszutreten, sagt er, aber er wählt den anderen Weg. Er quält sie. Mit einem Appell linker Sozialdemokraten („Augen und Ohren öffnen“), in dem sie ihren Spitzenkräften vorwerfen, Stuttgart 21 zu einer „Bruchstelle“ für eine grün-rote Koalition zu machen und auf dem sinkenden Boot zu bleiben – „egal, was es kostet, egal welche Risiken damit verbunden sind“. Von den Adressaten erhält Riedel keine Antworten, von der Basis kommen sie zuhauf. Viele fragen sich, ob ihr Verein die falsche Führung oder die falsche Strategie oder beides habe, ob die SPD eine „faktenresistente Starrsinnspartei“ sei und wie die 30.000-Euro-Spende von Tunnelbohrer Herrenknecht zu werten sei? Solche Post füllt Ordner.
Es gibt aber auch andere Meinungen zwischen den Deckeln. Zum Beispiel eine Mail von einem Mitarbeiter der SPD-Fraktion, der sich zum 30. September 2010, dem schwarzen Donnerstag, äußert. Der O-Ton lautet so: „Gibt es für Schüler und jedweden Demonstranten ein Recht, polizeilichen Aufforderungen zur Räumung eines Platzes nicht Folge zu leisten? War dies den Demonstranten verbrieft? Oder war es vielleicht so, dass sie eben den wiederholten Aufforderungen nicht folgten? Dies, nämlich nicht zu weichen, entspricht ja auch den gehirnlosen Gelöbnissen und Gelübden der Parkwächter. Man kann es auch als äußerst unanständig empfinden, Kinder und Schüler in diesen Konflikt zu treiben, offenbar in der Hoffnung, hinterher wirkungsvoller mit dem Finger auf die böse Staatsmacht zu zeigen. Ich weiß nun jedenfalls, was von den tollen Bekundungen der Gegner zu halten war und zu halten ist, nur legale Mittel anzuwenden, nämlich schlicht gar nichts. Das Geschrei vom ‚Lügenpack‘ bekommt da gleich eine andere Note, vielleicht meinten die Demonstranten sich selbst?
Wer nur legal protestieren will, der kann mit kreativen Ideen demonstrieren, der kann auch den ganzen Zauber machen, der vielen Stuttgartern offenbar den Sommer versüßt hat. Aber der weicht spätestens dann zurück, wenn die Polizei ihn einmal wegträgt oder zum Gehen auffordert. Was sonst kommt, weiß man seit Jahrzehnten, und alles andere wäre eine Kapitulation des Rechtsstaates vor der aktuellen Menschenmenge auf der Straße.“
Offener kann man nicht sagen, was heimlich gedacht wird. Auch deshalb will Riedel jetzt eine Mitgliederbefragung, deshalb schart er Gemeinderäte, Kreisräte, Ortsvereinsvorsitzende um sich, mit denen er Front macht gegen die da oben. 120 sind es schon. „Wenn die ihre Koffer packen“, glaubt er, „ist für die Partei hier Feierabend.“ Noch scheint die Drohkulisse nicht übermächtig. Am Wochenende ist die SPD-Fraktion zu einer Schifffahrt auf der Rhone aufgebrochen.