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Archiv-Artikel

Der harte Weg durch den Zoo

Ein Quatschsatz zum Nachsagen: „Wenn die Gabel schlägt, springt sie in den Abend“

AUS DÜSSELDORF MIRIAM BUNJES

Ilhem, Illias, Sadedin und Georgios reißen die Augen auf, als sie den Personalraum ihrer Kindertagesstätte betreten. Hier, wo sie sonst nichts zu suchen haben, liegt ein buntes Spielbrett auf einem sechseckigen Kindertisch. Davor sitzt eine fremde Frau, „die Frau Hatzitheodorou von der Grundschule“, wie ihnen ihre Kindergärtnerin Anne Gibmann erklärt. „Wir haben hier ein Spiel, das heißt, ,wir gehen in den Zoo‘“, sagt die Erzieherin. „Sollen wir das spielen?“ Die kleinen Köpfe nicken. „Ja?“, fragt Anne Gibmann nach. Sie bringt damit nur Sadedin zum Sprechen. „Da ist Tiger“, ruft er begeistert und zeigt mit dem Finger auf das Spielbrett.

„Da ist ein Tiger“ hätte er eigentlich sagen sollen, denn heute werden seine Deutschkenntnisse getestet. 180.000 Vierjährige aus Nordrhein-Westfalen – auch die 30 Prozent, die nicht in den Kindergarten gehen – werden bis Ende der März das Testspiel „Delfin4“ absolvieren. Der Sprachtest ist seit diesem Jahr Pflicht für alle Kinder, die in zwei Jahre in die Grundschule kommen sollen – ein bundesweit bislang einmaliger Vorgang. Zeigen sich beim Zoo-Spielen Sprachdefizite, werden die Kinder im Mai noch einmal getestet. Ist auch das zweite Testergebnis bedenklich, bekommen sie bis zur Einschulung eine spezielle Sprachförderung in ihrer Kita. Betreffen wird das etwa 20 Prozent der Kinder, schätzt das Schulministerium schon jetzt.

Die Rollen bei „Delfin4“ sind klar verteilt. Antje Hatzitheodorou, Sozialpädagin an der Grundschule in der Nähe der städtischen Kindertagesstätte Siegburgerstraße in Düsseldorf-Oberbilk, sitzt im Hintergrund und kreuzt für jede Spielrunde und jedes Kind die erreichte Punktzahl auf einem vorgefertigten Bogen an. Anne Gibmann erklärt den Kinder die Spielregeln. Und die Kinder sprechen. Allerdings – und das ist die erste, „ganz wichtige“ Regel: „Es darf nur das Kind reden, das gerade dran ist.“

Ilhem spricht nicht. Das rundliche Mädchen beginnt das Spiel in Oberbilk. „Nimm deine Spielfigur und stelle sie auf das blaue Feld neben das Delfin-Gehege“, sagt Anne Gibmann. Ilhem dreht die Spielfigur in ihrer Hand und lächelt. Die blaue Figur gefällt ihr, was sie damit soll, hat sie noch nicht verstanden. Anne Gibmann macht weiter, auch für die Erzieherinnen gelten Spielregeln: Die Aufforderungen werden nicht wiederholt. „Gib mir die blaue Karte mit dem Delfin drauf“. Das hat Ilhem besser verstanden. Sie nimmt den Stapel Spielkarten, die zu ihrem Platz gehören und blättert ihn durch. Und schon muss Anne Gibmann die Regeln brechen und ihr genauer erklären, welche die blaue Karte mit dem Delfin drauf ist. Von der Karte liest sie noch mehr Aufgaben für Ilhem ab: Sie soll ihre Figur auf den Kopf des Delfins stellen und neben den Mann mit dem Fisch. Ilhem stellt die Figur auf den Tisch vor sich und beginnt mit ihrem langen schwarzen Zopf zu spielen.

In ihrem Alter sollte sie Hauptsätze grammatikalisch richtig formulieren können und auch erste einfache Nebensatzkonstruktionen beherrschen. „Der Wortschatz von Vierjährigen ist schon relativ groß“, sagt Lilian Fried, Pädagogik-Professorin an der Universität Dortmund und Entwicklerin des Sprachtests. „Sie können schon frei über Zusammenhänge berichten und haben die Grundstrukturen der deutschen Sprache verinnerlicht.“ Um das zu testen, hat sie sich vier Stufen überlegt – alle spielerisch, „um an die Lebenswirklichkeit der Kinder anzuknüpfen.“ Daher der Zoo. „Kinder fühlen sich so nicht in einer Prüfungssituation.“

In Oberbilk ist Illias an der Reihe. „Schau mal Illias, hier ist ein Giraffenkind“, sagt Anne Gibmann zu dem kleinen Jungen. „Wollen wir mal sehen, ob sie auf einen Namen hört?“ Illias schaut seine Erzieherin schweigend an. „Ruf sie mal“, sagt die. „Ruf mal Tami!“ Schweigen. „Ruf mal Kirut.“ Schweigen. Auch Gofiph, Redopha und Utaroni sagt Illias nicht nach. Grundschulpädagogin Antje Hatzitheodorou notiert schweigend: Null Punkte.

Auch der nächste kleine Junge, Sadedin, soll etwas nachsprechen, was eigentlich Quatsch ist. „Der Papagei hier heißt Nora. Er spricht etwas vor und du sagst das nach“, erklärt seine Kindergärtnerin und zeigt auf den Papageien-Käfig im Spielbrett. „Ja“, sagt Sadedin und ist damit das erste Kind im Raum, das heute etwas sagt. Er soll „Quatschsätze“ nachsprechen: „Wenn die Gabel schlägt, springt sie in den Abend“ und „Am Sonntag geht der lustige Saft auf einen Baum“. Sadedin guckt erstaunt und lacht. Die Quatschsätze spricht er nicht nach.

„Wenn Kinder sich inhaltlich unsinnige Sätze merken können, zeigt das eindeutig, dass sie Grammatik verinnerlicht haben“, erklärt die Pädagogin Lilian Fried. „Bei richtigen Sätzen können sie sich nämlich inhaltliche Brücken bauen. So können wir Grammatikwissen pur erfassen.“

Die vierte Stufe des Spiels ist das freie Erzählen. „Hier sehen wir, wie gut die Kinder Dinge in den Zusammenhang stellen können.“ Georgios ist an der Reihe. „Was siehst du denn hier vor dir?“ fragt ihn Anne Gibmann. Vor Georgios ist ein Elefantengehege mit mehreren Elefanten abgebildet. Einer bespritzt einer Frau Wasser auf den Regenschirm, ein anderer isst, vor dem Gehege stehen mehrere Zoobesucher. Georgios hat seine kleinen Hände verschränkt und schaut fragend von der Erzieherin aufs Spielbrett. Sein Mund bleibt fest verschlossen. „Hast du denn auch ein Lieblingstier?“ Er nickt und schaut auf den Tisch. Welches das ist, möchte er nicht sagen.

25 Minuten soll eine Runde Delfin4 dauern. „Das kommt auch gut hin“, sagt Entwicklerin Fried, die das in einer Pilotstudie mit 700 Vierjährigen getestet hat. In Düsseldorf-Oberbilk dauert der Testlauf mehr als eine Stunde. Deutlich mehr gesprochen wird auch in den folgenden drei Runden nicht. Sadedin taut auf, spricht die Kunstworte nach und erzählt, dass sein Lieblingstier ein Tiger ist. Die Kinder sind zappelig geworden, Ilhem rutscht auf ihrem Stuhl herum, steht auf und spricht dann doch noch ein paar Worte: „Zur Toilette?“ Sie muss noch warten.

„Von unseren Kindern hier werden die meisten zum zweiten Sprachtest im Mai gehen“, sagt Kita-Leiterin Sonja Langenscheid. 90 Prozent der 62 Kinder in der Oberbilker Kita haben einen so genannten Migrationshintergrund. Fast alle bekommen wie Ilhem, Illias, Georgios und Sadedin schon jetzt gesonderte Sprachförderung, weil sie Probleme mit der deutschen Sprache haben. „Wir arbeiten schon lange an der Sprache“, sagt Langenscheid. „Ich finde es trotzdem gut, dass das jetzt erfasst und den Eltern noch einmal ins Bewusstsein geholt wird.“ Für jedes Kind, dessen Sprachtests Probleme anzeigen, zahlt die Landesregierung 340 Euro an die Kita. „Jetzt müssen wir auch nicht mehr um die Sprachfördermittel kämpfen“, sagt die Erzieherin. „Davon können wir alle nur profitieren.“

Auch Barbara Nolte, Leiterin eines Kindergartens im ost-westfälischen Hövelhof und Vertreterin der ErzieherInnen im Verband Erziehung und Bildung (VBE), findet Sprachtests an sich gut. „Kinder mit Sprachproblemen sollten vor der Grundschule gefördert werden“, sagt Nolte. „Und es macht auch Sinn, den Bedarf mit einem Test zu erheben.“ Mit Delfin4 ist sie jedoch nicht zufrieden. Auch in ihrer Kita dauerte der Test oft über eine Stunde. „Das ist zu lang für so kleine Kinder.“ Ein weiteres Problem: In Hövelhof und der näheren ländlichen Umgebung gibt es keinen Zoo. Für viele Kinder war das Spiel deshalb nicht die „vertraute Lebenswirklichkeit“, die sich die Test-Entwicklerin vorgestellt hatte. Manche Kinder, die ihre Erzieherinnen als sprachlich gut entwickelt kennen, schwiegen während des gesamten Spiels. „Das haben mir Erzieherinnen aus ganz NRW berichtet“, sagt Nolte. „Das liegt vor allem daran, dass das Spiel so lange dauert und die Kinder die meisten Zeit schweigen müssen. Das ist für sie eine ungewohnte und einschüchternde Situation.“ Auch die Aufgabenteilung zwischen Grundschulen und Kitas findet sie nicht ideal. „An den Schulen dürfen für die Tests keine Stunden ausfallen, das bedeutet, dass Extra-Förderung von Schulkinder nicht mehr möglich ist“, sagt sie. „Und unsere Kinder werden durch anwesende Unbekannte noch mehr verunsichert.“

In Düsseldorf ist der Test vorbei. Die fremde Frau Antje Hatzitheodorou lobt die Kinder, schenkt ihnen Kekse in Tierform und Tierkarten zum Ausmalen. „Das war lustig“, urteilt Sadedin und geht mit seinen Testkollegen zurück in die Spielgruppe.