„Die BND-Akte ist unvollständig“

EICHMANN Bettina Stangneths Quellenarbeit dekonstruiert viele Lügen

INTERVIEW RENÉ MARTENS

taz: Frau Stangneth, mit welchen Waffen nähert man sich als Philosophin Adolf Eichmann?

Bettina Stangneth: Ich habe die Dokumente, die wir kennen, mit meinen Methoden noch einmal neu gelesen. Mich interessiert immer die Denkungsart einer Person, kurz gesagt: Wie tickt jemand? Das können Sie herausbekommen, wenn Sie es über die Psychologie versuchen, aber das ist nicht mein Weg. Oder Sie nähern sich jemandem auf der Ebene der Begriffslogik, der Argumentationstechnik, der Manipulations- und Lügentechniken. In dem Moment sagen Ihnen Texte mehr. Das ist mir bei den Argentinien-Papieren, der erklärungsmächtigsten Holocaust-Quelle der Nachkriegszeit, zugutegekommen.

Eichmann hat zwischen 1950 und 1960 in Argentinien gelebt. Woraus bestehen diese Papiere?

Der umfangreichste Teil sind Protokolle einer Gesprächsrunde, die im Haus des nationalsozialistischen Journalisten Willem Sassen stattfand und an der Eichmann teilnahm. Bisher nahezu unbekannt waren aber die Handschriften, die Eichmann allein angefertigt hat.

Können Sie Ihre Arbeitsweise näher beschreiben?

Ich habe die Regel Klaus Oehlers, meines ersten Lehrers in der Philosophie, angewandt. Er hat immer gesagt: Wenn Sie glauben, dass Sie einen Text verstanden haben, lesen Sie ihn noch einmal von hinten nach vorn. So sieht man andere Dinge. Mir fiel auf, dass bei den Sassen-Gesprächen andere Stimmen als die Eichmanns und Sassens auftauchen, andere Denkungsarten und Argumentationstechniken. Darin unterscheiden sich Menschen wie in Ihren Fingerabdrücken.

Wer war in diesen Runden noch dabei?

Eberhard Fritsch, Ludolf von Alvensleben, andere alte Nazis, die in Argentinien lebten. Die Besetzung wechselte.

Wie erklären Sie es sich, dass das vorher nie jemand bemerkt hat?

Zum einen hat Eichmann selbst diese Runden im Prozess in Jerusalem als whiskyselige „Wirtshausgespräche“ abgetan. Das war eine seine zahlreichen Lügen. Er konnte ja schlecht sagen, dass er die zentrale Figur einer einjährigen historischen Tagung war und da jedes Wochenende bis zu zehn Stunden Menschen zusammengesessen haben, die den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wieder aufbauen wollten. Zum anderen sind die Protokolle unerträglich – auch optisch, weil schwer zu lesen. Was mich aber irritiert hat: Niemandem, der die 1998 aufgetauchten Originaltonbänder gehört hat, ist aufgefallen, dass da jemand einen ganzen Vortrag hält, der weder Sassen noch Eichmann heißt. Die Herrschaften haben sich aus Büchern vorgelesen, sogar Referate gehalten.

Wie haben Sie sonst recherchiert?

Ich habe einige zu den Argentinien-Papieren gehörende Dokumente aufgetan, die vorher kein Forscher gesehen hatte. Ein Problem war, dass diese Papiere seitenweise über Archive in mehreren Ländern verteilt sind. Man muss sie zusammensetzen. Außerdem habe ich Nachlässe von Nationalsozialisten ausgewertet. Dazu gehört der Adolf von Thaddens, der die NPD mitgegründet und für den britischen Geheimdienst gearbeitet hat. Dann Briefwechsel zwischen Nazis aus den 50er Jahren und natürlich Interviews mit Zeitzeugen in Europa und Argentinien.

Die Bild -Zeitung hat im Januar eine Karteikarte aus einer erst seit kurzem zugänglichen Akte des BND abgebildet, aus der hervorgeht, dass der Geheimdienst schon 1952 den Decknamen Adolf Eichmanns und seine genaue Adresse kannte. Kennen Sie die Akte?

Ich hatte die Möglichkeit, sie zwei Tage lang durchzusehen, weil Bild-Redakteur Hans-Wilhelm Saure mich zurate gezogen hat. Die Zeitung hat sich zunächst das Recht auf Einsicht erstritten und geht derzeit gegen die Schwärzungen in den Akten vor. Ich war davon ausgegangen, dass, nachdem vorher Gaby Weber, eine andere Journalistin, vor dem Bundesverwaltungsgericht zumindest einen Teilzugang zu den BND-Akten erkämpft hatte, jeder dieses Material einsehen kann. Aber dem ist nicht so. Jeder muss klagen. Ich habe mich, als mich Herr Saure anrief, gewundert, wieso Bild die einzige Zeitung ist, die auf diese Idee gekommen ist. Warum gibt es nicht von jeder großen deutschen Zeitung und Zeitschrift mindestens drei Freigabeklagen gegen den BND, jeweils zu unterschiedlichen Leuten? Dann wollen wir doch mal sehen, wie lange der BND das noch durchhält mit seiner Schwärzungspraxis. Das US-Parlament hat entschieden, die zu Eichmann freigegeben CIA-Akten ins Internet zu stellen. Einiges davon ist zwar bis zur Absurdität geschwärzt – aber immerhin.

Wie schätzen Sie die vorliegende BND-Akte ein?

Sie ist unvollständig und in sich unsystematisch. Wenn man ein Buch geschrieben hat, das „Eichmann vor Jerusalem“ heißt und 656 Seiten hat, und man findet eine BND-Akte, wo genau dieser Zeitraum weniger als 30 Blätter umfasst; wenn man Dokumente des BND bei der CIA gesehen hat, für die es kein Gegenstück in der vorliegenden BND-Akte gibt – dann weiß man, dass etwas fehlt. Würde der BND mit dieser Akte arbeiten, wäre er ein Dilettantenstadl.

Ihr Buch hat bereits vor Erscheinen international für Aufsehen gesorgt, weil Sie einen von Eichmann an Adenauer gerichteten offenen Brief entdeckt haben, der allerdings nicht veröffentlicht wurde. Inwiefern ist der 1956 verfasste Text aufschlussreich?

Er zeigt, dass Eichmann mit seinem relativ guten Leben in Argentinien keineswegs zufrieden war. Er wollte zurück nach Europa – und in der bundesrepublikanischen Tagespolitik mitmischen. Den Brief hätte man seit 1998 finden können. Seitdem liegt er im Bundesarchiv.

„Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“. Arche Verlag, Hamburg 2011, 656 Seiten, 39,90 Euro

Bettina Stangneth, geboren 1966, arbeitet als Philosphin in Hamburg. An dem Buch hat sie sechs Jahre gearbeitet