: Doch noch Skrupel in letzter Sekunde
EUROPÄISCHE UNION Brüssel setzt die neuen Wirtschaftssanktionen gegen Russland überraschend aus. Offiziell geht es um die Waffenruhe in der Ukraine – doch es gibt wohl auch noch andere Motive
AUS BRÜSSEL ERIC BONSE
Die EU ist in Sachen Russland erneut auf Schlingerkurs gegangen. Am Montagabend gab EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy überraschend bekannt, dass die gerade erst einstimmig beschlossenen neuen Wirtschaftssanktionen ausgesetzt werden. Ob und wann sie doch noch in Kraft treten, ist unklar – am Mittwoch sollen erneut die EU-Botschafter in Brüssel beraten.
Warum Van Rompuy in letzter Sekunde Skrupel bekam und wie es nun weitergeht, konnte nicht einmal die EU-Kommission erklären. Man wolle abwarten, ob die Waffenruhe in der Ostukraine halte, sagte die Sprecherin von Außenvertreterin Catherine Ashton. Allerdings war der Sanktionsbeschluss bereits nach Beginn der Waffenruhe am Freitag gefallen – und noch am Montag bekräftigt worden.
Die Sanktionen, die auch auf den Banken-, Rüstungs- und Ölsektor zielen, waren als Antwort auf die russische Militärintervention gedacht. Die EU hatte sie auch dann noch vorangetrieben, als Russlands Staatschef Putin bereits mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko über einen Friedensplan verhandelte. Selbst die Feuerpause änderte daran nichts. Nun teilte Van Rompuy mit, man wolle die „Umsetzung der Waffenruhe und des Friedensplans“ abwarten. Nach Lage der Dinge sei die EU sogar bereit, die beschlossenen Sanktionen „teilweise oder in Gänze“ zu überprüfen.
Unter welchen Bedingungen Brüssel auf die neuen Strafmaßnahmen verzichten könnte, bleibt jedoch im Dunkeln. Die EU-Kommission hielt sich bedeckt. Nur Kanzlerin Angela Merkel nahm Stellung und erklärte, sie wolle „jetzt Taten sehen“. Wenn die zwölf Punkte des Friedensplans umgesetzt würden, könne man auch über die Aufhebung von Sanktionen reden. Man wolle die „langfristige Grundlage für eine Kooperation mit Russland auch nicht aufgeben“, betonte Merkel. Derzeit würden Gespräche geführt, wie das EU-Ukraine-Freihandelsabkommen auch von Russland akzeptiert werden könne.
Hat Merkel bei Van Rompuy interveniert, um die Sanktionen in letzter Sekunde zu stoppen? Oder kuscht die EU aus Angst vor neuen harten Gegenmaßnahmen Russlands? Die Führung in Moskau hatte ein Überflugverbot für europäische Fluggesellschaften angedroht. Zudem könnte Moskau die Gaslieferungen nach Europa drosseln.
Fest steht, dass der Widerstand gegen neue Sanktionen schon vor der überraschenden Kehrtwende in Brüssel gewachsen war. Nach Ungarn und Bulgarien hatten am Wochenende auch Tschechien und die Slowakei Vorbehalte angemeldet. Am Montag kam noch Finnland hinzu. Angeblich wegen koalitionsinterner Probleme zögerte die Regierung in Helsinki den Sanktionsbeschluss heraus.
Während die EU-Staaten zögern, drängt das Europaparlament zu Eile. Der Handelsausschuss beschloss am Montag mit großer Mehrheit, das geplante Freihandelsabkommen mit der Ukraine im Eilverfahren durchs Parlament zu bringen. Die Fraktionschefin der Grünen, Rebecca Harms, sprach sich dafür aus, die Euromaidan-Bewegung mit dem Sacharow-Preis auszuzeichnen. Sie sei „eine der stärksten Bewegungen für Menschenrechte und Freiheit in der Geschichte des europäischen Kontinents“ und hatte zum Sturz von Expräsident Janukowitsch geführt.