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Archiv-Artikel

Sieben Protestsongs gegen das Sterben

NEOKIRCHENLIEDER Die Berliner Künstlerin Michaela Meise singt geistliche Musik zum Akkordeon – ganz ohne Ironie

VON KATHA SCHULTE

Was man davon hat, sind eine Woche lang schlimmste Ohrwürmer. Die sieben auf dieser Platte versammelten Traditionals sind zwar recht schön und schlicht interpretiert und dabei entschlackt. Es ist sogar versucht worden, sie aus der Untertänigkeit zu befreien, die mit ihrem Gebrauch sonst einhergeht, sie vom Bleifuß des Organisten zu erlösen, der auf die Pedale seines Instruments niederfährt als Anweisung an die Gläubigen, den Herren zu loben.Trotzdem handelt es sich immer noch um deutschsprachige Kirchengemeindenmusik.

Michaela Meise, Künstlerin aus Berlin und Dozentin an der Universität der Künste, singt mit heller Stimme geistliche Lieder aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und begleitet sich dabei auf dem Akkordeon. Dabei ist keine Ironie im Spiel: Im Kern geht es in ihrer Auswahl um christliches Leid – an der eigenen Armut, am Reichtum der anderen, am Sterben, um die Suche nach Trost. Andere, wenn sie leiden, gehen womöglich los und hauen dem so genannten Nächsten den Kopf ein. Die geistlichen Lieder hingegen propagieren und praktizieren eine demütige Haltung gegenüber dem Erlittenen.

Was hier an Lyrik vertont ist, weicht stark von dem ab, was man heutzutage zu denken und zu hören gewohnt ist, jedenfalls sofern man sich außerhalb der Kirchen befindet. Denn wer nie eine betreten hat, den wird diese Sprache der Liebe, Reue und Hingabe vermutlich verwundern, vielleicht auch beschämen. Im ersten Lied bittet die Sängerin den geliebten Herrn, sie mit seinem Blut reinzuwaschen. Und fügt hinzu, er möge jederzeit mit ihr tun, was ihm beliebt.

Chanson und Protestsong

In der Kirche bietet das Spiel des Organisten in den allermeisten Fällen die Vorlage für eine wirklich gequälte Gemeinschaftsdarbietung. Bei Michaela Meise hingegen formuliert das Akkordeon eine Einladung, der die Stimme ganz ungezwungen folgt.

Die Atemgeräusche des Instruments, die besondere Tiefe der Basstöne und das Geräusch klappernden Herumirrens, das die Finger auf den Tasten erzeugen, fördern den Eindruck von kontemplativem Zwiegespräch. Michaela Meise singt die Texte so, als wären sie gerade jetzt Ausdruck individuellen Erlebens und nicht kollektiv im liturgischen Sprachgebrauch tradierte Aussage. Ein Satz wie: „Ich will dich lieben, o mein Leben / Als meinen allerbesten Freund“, könnte sich darauf beziehen, das eigene Leben in Besitz zu nehmen, statt sich dem lebendigen Gott voll und ganz zu übereignen. Es ist hier aber keine andere Liebe gemeint als die zu Gott. Durch die Instrumentierung und durch gelegentlich chorhafte Arrangements geraten die Lieder voller Licht- und Herzmetaphorik mitunter in die Nähe des Chansons. Das von Oliver Husain gestaltete Artwork des LP-Covers – der Vinylplatte ist eine CD beigelegt – zeigt ein über einer Straße aufgespanntes zartes Tuch, das sowohl an ein Protestbanner als auch an ein Kirchenfenster erinnert. In Seidenmalerei ausgeführt steht dort als Slogan: „Preis dem Todesüberwinder“, um öffentlich Widerspruch dagegen einzulegen, dass gestorben werden muss. Es ist eine Demonstration dessen, was ästhetisch möglich ist, wenn man die Kirchenlieder als Protestsongs aufzufassen versucht.

Kirchenlieder nur so für sich zu singen ist allerdings gegen die Regel. Martin Luther hat das Singen deutschsprachiger Lieder durch die Gemeinde zum festen Bestandteil der Messe erhoben. Die Liturgie ist nie privater Natur, sondern das Wesen der Kirche ereignet sich durch sie. Kirche – was meint das?, pflegte mal ein Religionslehrer zu sagen. Das „meint“ auch all ihre autoritären, sakrosankten und hochgradig zeremonialisierten Codes der Heiligung, Sinnstiftung und Erhebung.

■ Michaela Meise: „Preis dem Todesüberwinder“ (Clouds Hill Ltd./ Rough Trade); live mit Phantom/Ghost: heute, HBC, Berlin

■ Die Hamburger Autorin Katha Schulte veröffentlichte im vergangenen Herbst ihren Debütroman „Unwesen“ im Hablizel Verlag