Bärendienste an der Alltagsmythologie

Der eine flüchtet auf dem Fahrrad, der andere kann sofort nach der Jagd ausgestopft werden: Verschiedene Bärengeschichten geistern als „urban tale“ durch das östliche Europa. Auch Deutschland ist nicht immun. Seit der Eisbär Knut die Welt entzückt, brauchen die anderen Berliner Bären Personenschutz

Der Polizeipräsident Dieter Glietsch warnte potenzielle Bärenbefreier öffentlich: „Mit Bären ist nicht zu spaßen!“

VON HELMUT HÖGE

1998 band man dem Biologen Cord Riechelmann in Bulgarien eine lustige Bärengeschichte auf: Als der KP- und Staatschef Todor Schiwkow einmal auf Bärenjagd gehen wollte, requirierten seine Jäger kurzerhand von einem Zigeuner einen Tanzbären. Dieser Bär wurde Schiwkow dann vor die Flinte getrieben. Dabei entriss er jedoch einem der Treiber ein Fahrrad, schwang sich rauf und radelte davon. 2001 hatte sich diese Geschichte derart ausgebreitet, dass sie – in Lettland – schon auf reiche Jäger aus dem Westen umgemünzt wurde, denen auf einmal Gleiches widerfahren sein sollte. Wladimir Kaminer erfuhr dort etwa vom Leiter des Goethe-Instituts in Tallinn, ein estnischer Förster habe neulich für zwei bayrische Jäger einen Zirkusbären in St.Petersburg gekauft, der sich dann mit dem im Wald liegengelassenen Fahrrad einer Blaubeerensammlerin auf und davon machte, ehe die Bayern ihn erlegen konnten.

Wladimir Kaminer machte daraus sogleich einen Lesebühnentext, der bei dem Berliner Bärenpublikum sehr gut ankam. 2006 griff der Wahlberliner Ingo Schulze diese Geschichte noch einmal auf. In seiner Bärengeschichte kommen der Leiter des Tallinner Goethe-Instituts und seine Frau, „eine bildschöne Argentinierin“, auch vor, daneben aber noch ein Jäger mit Namen Arne, der den Bär persönlich aus St. Petersburg abholte und ihn sogleich dem Autor, Ingo Schulze, und seiner Freundin Tanja vorführte, bevor er ihn zum Einsatz in den Wald brachte, wo der Bär sich dann wie gehabt ein Fahrrad klaute und damit aus dem Staub machte.

Wladimir Kaminer konterte 2007 mit einer neuen Bärengeschichte – frisch von der Internationalen Tourismus Börse, wo sich einige Tourismusmanager aus Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken mit einem deutschen Jagdreiseveranstalter trafen: „Wir haben die Zählung der Braunbären abgeschlossen, 1.500 leben allein in unserem Gebiet“, berichtete ein Beamter aus Tomsk „Davon brauchen wir höchstens ein Drittel, 1.000 Bären können also jederzeit abgeschossen werden. Wir haben Personal, fähige Leute vor Ort, die den Bären innerhalb von 24 Stunden ausstopfen, so dass der Tourist seinen Bären gleich mitnehmen kann“. „Sehr gut!“, sagte der Reiseunternehmer und notierte sich das.

Ein Delegierter aus Kasachstan meinte: „Wir haben eine große Muflon-Population – wilde Bergziegen. Unsere Leute vor Ort können die Tiere ausstopfen, bevor der Tourist wieder geladen hat.“ „Das ist alles schön und gut“, unterbrach ihn sein kirgisischer Kollege, „aber nichts ist spannender als eine Pegasen-Safari.“ Es handelt sich dabei um sehr große, aber auch sehr scheue Murmeltiere. Schon mehrmals waren deutsche Jagdreisegruppen unverrichteter Dinge – betrogen quasi – aus Kirgistan heimgekehrt: Das wusste der Reiseveranstalter, er hakte deswegen nach, ob es bereits ausgestopfte Pegasen gäbe. Das musste der Kirgise verneinen. „Na, sehen Sie?“, sagte der Reiseveranstalter fast triumphierend und beendete das Gespräch mit dem Satz: „Zum Anfang schnüre ich ein Standardpaket aus einer Ziege und einem Bären“.

Die Bärengeschichten dringen nicht nur aus dem Osten, dem Einflussgebiet des russischen Bären, zu uns, sie kommen auch von Süden: Seit der allseits kritisierten Exekution des italienischen Braunbären Bruno durch bayrische Jäger, Grenzschützer und GSG-9-Beamte kann man hierzulande von einer Bärengeschichtenschwemme sprechen. Die einen wollen Schutzparks für sie haben, die anderen fordern Bären-Management-Pläne (in Analogie zum Brandenburger „Wolf-Management“), wieder andere wollen erst einmal das Leben und Treiben der Braunbären in seinen letzten eurasischen Verbreitungsgebieten erforschen lassen. Sie warnen vor vorschneller Wiedereinbürgerung des Raubtiers. Gleichzeitig werden sofortige Schutzmaßnahmen für die angeblich vom Klimawandel bedrohten arktischen Eisbären gefordert – und in Berlin gibt es Knut, den „Weltstar aus Deutschland“ (Vanity Fair).

Der Berliner Bärenwahn geht inzwischen so weit, dass die lebenden Braunbären in ihren Zwingern im Köllnischen Park und am Tierpark Personenschutz bekommen – um zu verhindern, dass sie von militanten Tierschützern befreit werden. Die taz erhielt bereits mehrfach diesbezügliche „Aktions-Bekennerschreiben“. Und der Polizeipräsident warnte die potenziellen Täter öffentlich: „Mit Bären ist nicht zu spaßen!“ Das sei was anderes, als weiße Mäuse aus den Labors der FU zu befreien.