ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Mit dem Weltgeist zum Briefkasten

Es waltet hierin ein eigentümliches Missgeschick über mir, jeden Brief mit Bitten um Verzeihung anzufangen …

Ich bin nicht Dieter Baumann. Wäre ich es, auf geschwinden Sohlen trüge mich mein stählerner Wille allabendlich mehrfach über die Marathondistanz. Oder wenigstens über die 10.000 Meter. Einfach so, weil’s mit guttäte und ich Lust darauf hätte. Habe ich aber nicht.

Olympiasieger bin ich höchstens im Vor-mir-her-Schieben gewichtiger Notwendigkeiten. Den Beginn meiner persönlichen Laufsaison schiebe ich so lange vor mir her, bis in meinem inneren Sportpalast mein innerer Josef Goebbels meinem inneren Schweinehund endlich den totalen Krieg erklärt. Erst dann raffe ich mich auf zum Häuserkampf, ein letztes Aufgebot meiner selbst – und finde es toll!

Entsprechend beschwingt und mit einem munteren „Hepp, hepp, hepp“ auf den Lippen flog ich also neulich frohgemut meine gewohnte Joggingstrecke am Berliner Landwehrkanal entlang. Und weil man doch beim Laufen auch seinen Gedanken freien Lauf lassen sollte, dachte ich mit schlechtem Gewissen an meinen alten Freund Andreas.

Auf der Schule waren Andy und ich schier unzertrennlich gewesen, hatten uns gegenseitig Jethro-Tull-Tapes mit selbst gebastelten Covern geschenkt oder waren in seinem Jägermeister-farbenen Fiesta über die Feldwege des Pfälzerwaldes bis nach St. Wendel gezuckelt, um in der dortigen Turnhalle unser Langhaar synchron zur Musik abgehalfterter Metal-Gitarristen zu schütteln. Süßer Vogel Jugend!

Mehrere freundliche Briefe hat Andreas mir seither aus der alten Heimat geschrieben, den letzten im vergangenen Herbst, und keinen einzigen davon hatte ich bisher beantwortet. Je länger ich die längst überfällige Antwort vor mir her schob wie eine gischtschäumende Bugwelle, umso unmöglicher wurde sie mir. Was hält mich davon ab? Wie fange ich’s an? Welche Worte könnte ich wählen?

Dergestalt verstrickt in selbstkritisches Gedankengut knickte ich so jäh und vermittelt um, dass es knackte. Ob es wirklich „knackte“, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, weil ich beim Laufen immer so laut Musik hören muss. Weh genug tat es jedenfalls. Auf einem Bein hüpfte ich ins Krankenhaus, um es wenig später mit der Diagnose „Bänderriss“ und dem Rat, „Mutter Natur“ werde das schon regeln, auf Krücken wieder zu verlassen. Schöne Scheiße.

Es folgten irritierende Wochen der Ruhe und Kontemplation. Mit hochgelegtem Bein und gut gekühltem Knöchel studierte ich zunächst tagelang die Decke über meinem Sofa und erlebte später aus erster Hand, wie doof sich so eine Sportverletzung anfühlt. In der U-Bahn bot ein Punk mir seinen Sitzplatz an, derweil sein Kampfhund, leichte Beute witternd, mich nicht aus den Augen ließ. Ich beschloss, zur Sicherheit lieber daheim weiterzurekonvaleszieren – und die Zeit sinnvoll zu nutzen. Um endlich den überfälligen Brief an Andreas zu schreiben. Tatsächlich fand ich irgendwann doch noch die richtigen – ach was, die perfekten Worte, und zwar in einem alten Büchlein mit den nachgelassenen Briefen eines deutschen Philosophen, der im April 1823 in Berlin folgende Zeilen zu Papier brachte: „Die lange Verzögerung einer Beantwortung Ihrer mehrern freundlichen Briefe, wertester Freund, könnte ich nur zum Teil mit der selbst unentschuldbaren allgemeinen Weise entschuldigen, wie es mir mit dem Briefeschreiben zu gehen pflegt. Ein Teil des Aufschubs kommt jedoch auf die Rechnung meiner Absicht, für das gütige Geschenk Ihrer Schrift ausführlicher zu danken. Dazu hätte ich freilich Zeit, nach der Uhr gemessen, gefunden, aber nicht Muße genug. Ein Brief, wenn er nicht eine förmliche Geschäftssache betrifft, wird mir zu einer Art von Reise zu einem Freunde, und um mich einer solchen überlassen zu können, will ich einen von sonstigen Treiben, Sorgen und Zerstreuung freien Kopf abwarten. So komme ich oft vor den Ferien nicht zum Beantworten mir lieber Briefe wie die Ihrigen, auf die ich jedoch im Gedanken den ganzen Winter über geantwortet habe; eine Krankheit hat auch ihren Anteil an dem Aufschub“. Wow. Abgeschickt habe ich diese Zeilen aber nie. Warum? Ich bin doch nicht Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Schreibhemmung? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN