: Gegenläufige Entwicklungen
ARBEITSMARKT IT-Experten werden weiter händeringend gesucht. Wegen des bestehenden Mangels an IT-Spezialisten kommt es mittelfristig darauf an, mehr Frauen, Alte und Zuwanderer für informationstechnische Ausbildungen und Berufe zu gewinnen
VON OLE SCHULZ
Eine Aus- oder Weiterbildung zum IT-Experten erscheint sinnvoller denn je. Heute schon ist die IT-Branche nach Angaben des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitkom) mit über 843.000 Arbeitsplätzen hinter dem Maschinenbau zweitgrößter Arbeitgeber in der deutschen Industrie – noch vor der Automobil-, Elektro- oder Chemieindustrie. Und der Arbeitskräftebedarf in der Branche wächst weiter enorm. Nach Bitkom-Schätzungen wird es 2011 im IT-Sektor im Saldo einen Zuwachs von rund 10.000 neuen Stellen geben.
Dahinter stehen allerdings gegenläufige Entwicklungen innerhalb der Branche, die auch das deutsche Bildungswesen vor Herausforderungen stellen. Gerade in der Telekommunikationsindustrie schreitet der Personalabbau weiter voran. „Aufgrund der Digitalisierung der Netze werden zum Beispiel weniger Netzwerkbetreuer und Systemelektroniker gebraucht“, sagt der Bitkom-Arbeitsmarktexperte Stephan Pfisterer. In der Unterhaltungselektronik und dem Endgerätebereich geht der vermutlich unumkehrbare Trend der Produktionsverlagerung ins Ausland derweil weiter: „Das letzte Handywerk hat bereits vor drei Jahren in Bochum geschlossen“, so Pfisterer.
Arbeitsplätze geschaffen werden laut Pfister hingegen vor allem in den Bereichen Software und IT-Dienstleistungen. Allerdings hätten viele Unternehmen Schwierigkeiten, geeignete Mitarbeiter zu finden, was in erster Linie mit den gestiegenen Qualifikationsanforderungen zu tun habe. Fast 60 Prozent der von Bitkom befragten Unternehmen geben an, dass ihr Wachstum durch den Fachkräftemangel gebremst werde. „Für viele IT-Jobs braucht man mittlerweile neben dem technischen Know-how auch eine ausgewiesene Beratungskompetenz.“ Laut der Umfrage haben heute bereits 50 Prozent der IT-Beschäftigten einen Hochschulabschluss. Ihr Anteil müsse in den kommenden Jahren weiter gesteigert werden, so Pfisterer. Als sinnvoll erachtet er daher die Förderung technischer Studiengänge mit längeren Praxisphasen.
Um dem bestehenden Mangel an IT-Spezialisten entgegenzuwirken, bedarf es laut Pfisterer insgesamt gezielter und koordinierter Anstrengungen seitens von Politik und Wirtschaft. Ein entscheidender Faktor sei dabei der Schulunterricht in den sogenannten Mint-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. „Das Stundenvolumen in den Mint-Fächern sollte von derzeit rund einem Viertel am Gesamtumfang des Unterrichts auf ein Drittel gesteigert werden – gerade auch um die Praxisorientierung in diesen Fächern zu verbessern.“
Zur speziellen Förderung der häufig technikphoben Mädchen sei zudem zu überlegen, den Mint-Unterricht zum Teil geschlechtergetrennt durchzuführen. „In Modellprojekten hat sich dieser Ansatz bewährt“, sagt Pfisterer. Ziel müsse es sein, den erschreckend niedrigen Anteil von Frauen in den Mint-Studiengängen zu erhöhen. „Aber auch die Unternehmen sind gefragt. Denn bisher gibt es zu wenige weibliche ‚Role Models‘ in der IT-Branche.“ Ebenso müsste die Wirtschaft verstärkt Arbeitszeitmodelle umsetzen, die es Frauen erlauben, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Aktuell sind nach Bitkom-Angaben gerade einmal rund 20 Prozent aller IT-Fachkräfte Frauen.
Eine besondere Unterstützung bräuchten auch ältere IT-Spezialisten, sagt Pfisterer. Zum einen müssten die Qualifizierungsangebote für sie verbessert werden, zum anderen komme es angesichts der demografischen Entwicklung darauf an, „sie länger im Arbeitsprozess zu halten“. Das hätten viele Unternehmen auch erkannt, weshalb der einstige „Jugendwahn inzwischen der Vergangenheit angehört“: Der Anteil der über 55-Jährigen in der Branche habe sich in den letzten zehn Jahren auf knapp 10 Prozent nahezu verdoppelt.
Ein letzter, sehr wichtiger Baustein im Kampf gegen den IT-Fachkräftemangel ist laut Pfisterer eine „liberalere Zuwanderungspolitik“. Bitkom hat dafür einen Dreipunkteplan vorgelegt, zudem auch eine Reform des Zuwanderungsgesetzes gehört. Demnach soll eine unabhängige Kommission ein Konzept ausarbeiten, wie die Zuwanderung auf Basis eines Punktesystems gesteuert werden kann. Ergänzt werden müsse eine solche Reform durch eine internationale Marketingkampagne, welche die Attraktivität des Lebensstandorts Deutschland für qualifizierte Zuwanderer betone.
Doch auch wenn sich die Politik trotz aller Widerstände im Lande zu diesen überfälligen Schritten durchringen sollte, müsse noch viel geschehen, glaubt Pfisterer, damit Deutschland zu einem bevorzugten Einwanderungsland werde. „Länder wie Kanada oder Neuseeland sind uns da noch weit voraus.“