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Archiv-Artikel

Leises Blubbern sickert ein

THEATER In nächtliche Traumwelten taucht das Tanzstück „Seesaw“ im Theater Thikwa ein. Hier stehen behinderte und nicht behinderte Darsteller mit unterschiedlichen Bewegungsressourcen auf der Bühne

Einen Behindertenbonus wollen Akteure und Organisatoren nicht

VON ANNETTE JAENSCH

In Zellophan verpackt hat das Kaninchen seinen Auftritt. Ein weißes wie bei Alice im Wunderland ist es zwar nicht, in wundersame Gefilde will es dennoch lotsen. Die nächtliche Traumwelt ist es, in die das Ensemble des Theaters Thikwa zusammen mit dem tierischen Requisit in dem Tanzstück „Seesaw“ eintaucht. Damit die somnambulen Phantasien so richtig in Gang kommen, darf ein Bett nicht fehlen.

Ein majestätisches Exemplar mit Messingknäufen erwartet die zwölf Traumwandler, doch denen steht der Sinn noch nicht nach Ruhe. Sie hüpfen darüber hinweg, stoßen sich bei jeder Runde schwungvoller ab, als ob sie in eine andere Dimension fliegen wollten. Auf ganz individuelle Art und Weise vollführen die Performer diese kleine Sprungbrettnummer. Kein Wunder, denn wie in jeder Produktion des Theater Thikwa e.V. stehen behinderte und nicht behinderte Darsteller mit unterschiedlichen Bewegungsressourcen gemeinsam auf der Bühne. Mit schwarzen Kajalstrichen unter den Augen und den farbenfrohen Kostümen von Pablo Alarcón wirken sie wie Krieger der Poesie.

Vor allem die Musik versorgt das Geschehen mit atmosphärischer Tiefe. Mal haucht Kate Bush sanft-versponnene Töne, mal lässt Angelo Badalamenti grüßen, der Soundtracks für Filme von David Lynch komponierte. Es sind besonders die kleinen szenischen Einfälle, die verblüffen. An einer Stelle bläst Alexander Lange, der im Rollstuhl agiert, mit einem Strohhalm in ein Wasserglas. Das leise Blubbern sickert ein in den Strom der märchenhaften Assoziationen, die längst entstanden sind. Wehende Vorhänge, wie von Geisterhand bewegt, geheimnisvoll wispernder Wind: Auch wenn dies altbewährte Theatertricks sind, sie verfehlen ihre Wirkung nicht.

Das liegt vor allem am konzentriert spielenden Ensemble. Immer wieder entspinnen sich Duette zwischen den professionellen Tänzern und den Thikwas, wie die Mitglieder des integrativen Projektes genannt werden. Vasileios Koutras und Katharina Maasberg gleiten raubtierhaft über den Boden der Bühne. Am Ende der dynamischen Begegnung thront die Darstellerin mit Down-Syndrom auf den Schultern ihres Partners und reckt sich stolz in die Höhe. Im Traum galoppieren die Phantasien.

Den Trip in die Tiefen der Nacht hat Linda Weißig choreografiert. Seit 2007 erarbeitet sie regelmäßig Tanzstücke für Thikwa. „Die Freude und das Lachen“, so beantwortet sie spontan die Frage nach dem Reiz dieser künstlerischen Arbeit. Der Theater Thikwa e.V., der eine feste Adresse im Kreuzberger F40 in der Fidicinstraße gefunden hat, gilt in vielerlei Hinsicht als Pionier der Inklusion. So wurde das Areal zur deutschlandweit ersten barrierefreien Spielstätte für Publikum und – wohlgemerkt –Schauspieler ausgebaut.

Seit der Gründung im Jahr 1991 sind rund 90 Stücke entstanden. Einen Behindertenbonus wollen Akteure und Organisatoren nicht. „Wir sehen uns nicht in der Ecke von Theaterprojekten, bei denen nur die Bewegungsfreude ausgelebt wird. Es geht darum, Techniken zu professionalisieren, im Tanz wie im Schauspiel“, betont die künstlerische Leiterin Nicole Hummel. Die Kaninchenfigur hat es unterdessen nur zum Sidekick gebracht. Corinna Heidepriem, die schon in vielen Thikwa-Stücken zu sehen war, hat sie ein paarmal behutsam über die Bühne bugsiert. Ihre Kollegen schwingen sich derweil auf der titelgebenden Schaukel in entferntere Traumsphären davon.

Man verlässt „Seesaw“ mit dem Gefühl, integratives Theater in geglückter Form gesehen zu haben: sachte vorwärtstastend und ungemein souverän. Thikwa bedeutet auf Hebräisch Hoffnung. Eine schöne Botschaft.