: Angst vor der Nichtigkeit
Die Öffentlichkeit fordert nach neuen Doping-Indizien ein Geständnis von Jan Ullrich. Das wird er nie ablegen
Er würde wohl nicht noch einmal zu „Beckmann“ gehen und sich mit Fragen nach Doping, Blutproben und unwahren Behauptungen konfrontieren lassen. Denn damit kann Jan Ullrich nicht umgehen. Deshalb ist er auch in diesen Tagen nicht zu sprechen. Außer für seine Anwälte, aber die haben ihn zu vertreten, nicht öffentlich ins Gebet zu nehmen. Der frühere Berufsradfahrer hätte ja auch Schwieriges zu bewältigen: Er müsste endlich beichten. Und welcher Täter tut das schon gern?
Diesen Wunsch haben sie alle abschlägig beschieden, Ben Johnson, Kelly White, Katrin Krabbe, medaillengeschmückte DDR-Schwimmerinnen – kein Fall ist überliefert, bei dem irgendeiner gesagt hätte: Ja, ich habe gedopt, mir einen Wettbewerbsvorteil verschaffen wollen – koste es, was es wolle, und sei es meine eigene Gesundheit.
Ullrich müsste Unmögliches vollbringen. Beispielsweise die Kleinigkeit, alle sportliche Erfolge, vor allem den Sieg bei der Tour de France 1997, zu erschummelten Nichtigkeiten zu deklarieren. Die Angst, dass die öffentliche Anerkennung entzogen würde, wird potenziert durch die Furcht, alle Meriten abgesprochen zu bekommen, die moralischen in erster Linie.
Mit seiner Weigerung, von den Abgründen seiner Disziplin zu berichten, steht der Radrennfahrer Ullrich nicht alleine. Andere Felder, gleiche Usancen: Helmut Kohl nahm alles auf sich, nur um nicht gestehen zu müssen, dass die Unionsspendendelikte vielleicht mit seiner Billigung vollzogen wurden. Wissenschaftler, die aus Arbeiten von Kollegen abkupfern, um sie für eigene Karriereprofile zu nutzen, geben auch nie etwas zu. Im Zweifelsfall zeigen sie mit Fingern auf Verschwörer, deren Opfer sie wurden – oder schweigen.
In Sachen Ullrich wüsste man dennoch gern: Ob er vielleicht einfach aus einem Gerechtigkeitsgefühl – dem in eigener Sache – gehandelt haben mag? Etwa nach der Devise: Die anderen tun’s auch – und täte ich es nicht, käme ich nie vom Fleck. Lügner und Leugner müssen immer darauf zählen, dass ihr Ruhm allenfalls noch ein zweifelhafter ist. Eine Tragödie, dass der ihnen schon ausreicht. JAF
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