Ganz neu: das Gestern

Schriften zu Zeitschriften: Die „Neue Rundschau“ widmet ihre hochinteressante neue Ausgabe „Historische Stoffe“ der eigentümlichen Renaissance der Vergangenheit

Vor über vierzig Jahren stimmte Marcel Reich-Ranicki ein Loblied auf eine schon damals ehrwürdige Kulturzeitschrift an: Bei der Lektüre der Neuen Rundschau spüre man „keinerlei Diskrepanz zwischen der reinen Essayistik und der reinen Wissenschaft“; die Zeitschrift habe sich „dem Provinzialismus widersetzt“, ohne dabei „für alle verständlich zu sein und ohne andererseits nur Eingeweihte anzusprechen“. Reich-Ranicki, dessen ästhetischer Populismus noch elitäre Grenzen kannte, verteidigte die Differenzierungsarbeit der Neuen Rundschau, „aus der Not der Verspätung, die durch die Erscheinungstermine einer Vierteljahreszeitschrift bedingt wird, die Tugend der Distanz zu machen“. Damit beschrieb der Kritiker das komplizierte Profil von Intellektuellenzeitschriften.

Tatsächlich grenzt es an ein Wunder, dass die 1890 gegründete Neue Rundschau heute immer noch existiert. Im sagenhaften 118. Jahr ihres Bestehens ist sie zweifellos eine Legende. Der Verleger Samuel Fischer hatte sie gleichsam als Diskursmaschine in der wilhelminischen Ära konzipiert. Von Thomas Mann bis Gerhart Hauptmann veröffentlichte hier alsbald jeder, der Rang und Namen hatte. Doch das Wedeln mit ruhmreicher Tradition hilft nicht, wenn die Leserschaft der Gegenwart schwindet. Die Lage anspruchsvoller Periodika war stets von Verlustarien und Niedergangschören begleitet. Aber schrumpfende Abonnentenzahlen werden heute nicht mehr vom Prestigegewinn für die Verlage aufgewogen, zumal das Statussymbol „Intellektuellenzeitschrift“ kaum jemanden mehr erotisieren dürfte. Der Rowohlt Verlag hat vor einiger Zeit aus den betriebswirtschaftlichen Lasten die Konsequenz gezogen und das Kursbuch abgestoßen, das nunmehr das Dasein eines Zeit-Ablegers fristet. Im Hause S. Fischer hat man hingegen solch brutalen McKinsey-Verlockungen glücklicherweise widerstanden – und stattdessen mit Heft 1/2007 einen Relaunch der Neuen Rundschau versucht: modernisiertes Äußeres, im Innern stärker an ein Buch und weniger an eine Zeitschrift erinnernd.

„Historische Stoffe“, lautet das aktuelle Thema; die Autoren dieses hochinteressanten Heftes deuten die eigentümliche Renaissance der Vergangenheit, die in der deutschen Gegenwartsliteratur jüngst zu beobachten war. Antje Rávic Strubel, die Herkunftssorgen eher unwesentlich findet („In jeder Erinnerung stecken vielleicht fünf Prozent Tatsachen, der Rest ist Alkohol“), schildert ihre dennoch widerstreitenden Empfindungen angesichts zahlreicher DDR-Objekte im „Wende Museum“ in Los Angeles. Die Schriftsteller Daniel Kehlmann und Michael Lentz machen sich in einem umfangreichen Gespräch Gedanken über die literarischen Techniken des „Einschmelzens und Ummünzens“, über den „Gestus der Distanz“ und die Verlegung des existenziellen Ernstes in andere Epochen. Lentz („Ich bin fixiert auf Deutschland“) liefert zudem eine Kostprobe aus seinem im Herbst erscheinenden Roman „Pazifik Exil“ über die deutschen Emigranten in Kalifornien während des Zweiten Weltkriegs – man kann dem Buch schon jetzt lautstarke Resonanz im kommenden Herbst prophezeien.

Angesichts solcher Inhalte ist der karge Web-Auftritt der Neuen Rundschau erschreckend stiefmütterlich, irgendwo im Nirwana der Verlagshomepage: kaum Inhalte, keine Pressestimmen, ein angesichts einstiger Ausstrahlung geradezu beschämendes Archivkurzzeitgedächtnis. Hier sind dringende Reformen nötig. Dann könnte Marcel Reich-Ranicki mit seiner Diagnose aus dem Jahr 1963 Recht behalten: „Es hat sich wieder einmal erwiesen, dass das Publikum nicht so schlecht ist, wie die schlechten Redakteure es uns gelegentlich einreden wollen.“ ALEXANDER CAMMANN

„Neue Rundschau“, 1/07: Historische Stoffe, 222 S., 10 Euro, www.fischerverlage.de/page/neue_rundschau