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Archiv-Artikel

„Die Anmaßung ist schon da“

Keine privilegierte Sicht von außen: In seinem Buch „Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht“ schlägt der Kunstkritiker und Kurator Jörg Heiser Schneisen in den Dschungel des aktuellen Kunstgeschehens und zeigt, dass man sich in dem Dickicht nicht unbedingt verlaufen muss

JÖRG HEISER, Jahrgang 1968, lebt in Berlin. Er ist Chefredakteur der britischen Kunstzeitschrift frieze und Autor für die Süddeutsche Zeitung. Dazu Ex-Autor der taz.

von ANGI HARRER-VUKOREP

taz: Der Titel erweckt hohe Erwartungen. Ist diese „plötzliche Übersicht“ angesichts der Hyperproduktion der Kunst heute Anmaßung oder letztlich nur Ironie?

Jörg Heiser: Der Titel ist ein Zitat der gleichnamigen Arbeit von Fischli/Weiss von 1981. Kleine krude Tonskulpturen erklären die Welt in teils weltbewegenden, teils überhaupt nicht weltbewegenden Ereignissen – insofern ist es Ironie. Aber die Anmaßung ist natürlich schon da. Wenn man behauptet, ein Panorama zu eröffnen, kann das nur aus einer subjektiven Perspektive heraus geschehen. Wobei subjektiv nicht beliebig heißt, denn ich versuche umso mehr argumentativ zu begründen, wie ich zu meinen Einschätzungen komme. Es gibt kein Außen, von dem aus man wirklich einen Überblick bekommen kann. Man steckt immer schon mitten drin, wenn man sich mit Kunst beschäftigt.

Der Untertitel verspricht Kriterien. Ist es nicht waghalsig, nach Kriterien zu rufen in einem Bereich, der sich den postulierten Maßstäben ständig entzieht?

Aber das ist ja selbst auch ein Kriterium, dass die Kunst sich eben diesen Kriterien entzieht. Als Betrachter oder Schreibender überprüfe ich, ob und wie sie das macht. Und wenn sie es nicht einlöst, dann schaue ich mir an, was sie stattdessen tut. Es geht absolut nicht um einen Erkennungskatalog, nach dem ich handbuchmäßig Kunstwerke ästhetisch aburteilen kann. Ich möchte nicht, dass jemand sagt, das ist der Kanon und dem folge ich – das wäre grauenhaft. Es muss etwas anderes geben als die Wahl zwischen beliebigen Geschmacksurteilen, die ihre Gründe nicht kennen wollen, und Urteilen, die ständig mit normativen Vorgaben aus anderen Feldern operieren, ob aus der Philosophie oder der kritischen Theorie usw. Das Kunstmachen selbst produziert ja Entscheidungsprozesse, und die kann ich versuchen zu verstehen und zu eigenen Kriterien des Betrachtens in Beziehung setzen.

Sie entwerfen in Ihrem ersten Kapitel die Idee des Slapsticks als einen der Wesenszüge der Kunst des 20. Jahrhunderts. Widerspricht nicht die Antinarrativität der Kunst dem Slapstick, der in seinem Wesen doch sehr narrativ ist?

Mann rutscht auf Bananenschale aus, das ist eine Geschichte, die einen Anfang und ein Ende hat. Aber das ist es nicht, was es ausmacht. Natürlich gibt es immer eine Narration und sei es die, die ich als Betrachter vervollständige. Aber die Frage ist, ob das die eigentliche Pointe dessen ist, was da gemacht wird. Ich glaube, dass es zwischen Teilen der Kunst und Slapstick eine Parallele gibt: Narrative Konventionen werden durch Wiederholung entleert und an sich aufgerieben. Die ersten Readymades von Duchamps haben offensichtlichen Slapstickcharakter. „Trebuchet“ – das heißt Falle – ist ein Kleiderhaken, der am Boden befestigt wird, offensichtlich also eine Stolperfalle. Oder eine Schneeschaufel die betitelt wird „In Advance of a Broken Arm“. Auch da ist wieder das vorweggenommene Slapstickmoment des schmerzhaften Fallens drin. Das war der Ausgangspunkt. Ich sehe das nicht als Fußnote der Kunstgeschichte, sondern als Hinweis darauf, dass der Umgang mit Objekten und Körpern viel mit der Slapstickmethodik zu tun hat.

Wie verhält es sich mit dem von Ihnen in die Kunst eingeführten Stichwort „good cop, bad cop“?

Mir ging es an der Stelle darum, dass man aus lange eingeübten Haltungen herauskommt. Also platt gesagt, gibt es kunsttypische Zuspitzungen, die man sicherlich auch aus anderen Kultursparten kennt, in denen es die Pose des entlarvenden Kritikers gibt, der dem kommerziellen Marktgeschehen die Maske entreißt. Das wäre die „J’accuse!“-Haltung. Das Gegenstück ist die „Jakuzzi“-Haltung, der Kopfsprung mitten in das Getümmel und die Freude am glamourösen Anhäufen von Anerkennung, Geld und sonstigen Vergütungen. Wenn man eine Weile mit all diesen Mechanismen immer wieder konfrontiert wird, ist es ermüdend, zu sehen, wie die Leute in die bereits tausendfach formulierten Erklärungsmuster zurückfallen. Kritik macht für meine Begriffe nur Sinn, wenn sie auch immer als Gegengift Empathie mit sich trägt, wenn sie nicht nur der Sicherung und Affirmation des eigenen Standorts dient.

Ist Ihr Buch vor allem für Szenekenner geschrieben oder erschließt es sich und die in ihm behandelte zeitgenössische Kunst auch dem Einsteiger?

Auch wenn der Sound ein anderer ist, würde ich mein Buch wissenschaftlich nennen. Es ist aus einer langen Recherche heraus entstanden, bei der ich den zeitgenössischen Kunstdiskurs über viele Jahre mitverfolgt habe. Zugleich müssen meine imaginären Leser keine Kunstprofessionellen sein, sehr wohl aber Intellektuelle. Leute, die sich eher in Literatur, Film, Theater, Musik zu Hause fühlen. Die sich fragen, was dieser Kunstzirkus soll, und das nicht unbedingt im Sinne eines: „Das kann mein Kind auch“, sondern im Sinne von: Da scheint ja doch was dahinter zu sein, nur gibt es dafür keine Sprache, auf die ich einsteigen kann, ohne gleich selbst Teil dieses Betriebs zu sein.

Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem spezialisierten Avantgardediskurs und einem an komplizierteren Dingen null interessierten Populärdiskurs, der fast ausschließlich über Gesichter, Auktionszahlen und das Lifestyledrumherum läuft. Deshalb der Versuch, ein paar Schneisen ins Kunstfeld zu schlagen, eine Art Navigationsinstrument, nicht mehr und nicht weniger.

Jörg Heiser, „Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht“. Claasen Verlag, Berlin 2007, 224 Seiten, 22 €