piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Poet des anderen Amerika

LESUNG Am Samstag stand in der Kulturspelunke Rumbalotte continua der amerikanische Dichter Jack Hirschman auf dem Podium

Ernest Hemingway bezeichnete ihn als einen der größten Dichter Amerikas

Samstagabend, kurz vor neun: In der Rumbalotte ist nicht viel los. Am einzigen besetzten Tisch scharen sich ein paar junge Menschen um Albert Einstein, der selig lächelnd ein Geschenk in der Hand hält. Gerade stellt sich ihm eine Frau vor. Die Falten um Einsteins Augen vertiefen sich, unter dem buschigen Schnauzer verzieht sich der Mund zu einem Grinsen. „I’m Jack“, sagt er, und die Illusion zerplatzt.

Jack Hirschman, geboren 1933 in New York, ist nicht gekommen, um über Relativitätstheorie zu sprechen, sondern um aus seinem Gedichtband „Wer trägt Sorge“ zu lesen, der letzten Herbst in der österreichischen Edition BAES erschienen ist. Dass die Zeit nicht sein Metier ist, der Gedanke drängt sich spätestens dann auf, als er auch um Viertel nach neun noch keine Anstalten macht anzufangen. Der Raum ist gut gefüllt. Wartet er auf jemanden?

Endlich erhebt er sich und nimmt auf dem Podium Platz. Er brauche kein Mikrofon, verspricht er, und man glaubt es ihm sofort: Jack Hirschman ist groß gewachsen, weiße Hosenträger spannen sich über einen stattlichen Bauch. Er beginnt die Lesung mit „NY, NY“, einem Gedicht über seinen Geburtsort. Die kurzsichtigen Augen zusammengekniffen, die Nase fast die Seiten berührend, steht er am Rand des Podiums und deklamiert: „It’s big/It’s ugly/I hate it/ I love it …“ Seine sonore Stimme füllt den Raum mühelos, bisweilen schreit er, das Publikum hängt an seinen Lippen. Übersetzer Jürgen Schneider tut gut daran, seine Übertragung sitzend ins Mikrofon zu sprechen und sich überhaupt zurückzuhalten. „Ist Benny hier?“, fragt Hirschman zwischen zwei Gedichten und blinzelt kurzsichtig in den Raum. „Ben?“ Keine Antwort. Er liest weiter. Viele Gedichte nehmen Bezug auf die amerikanische Politik der letzten Jahre. In „Schlicksatin“ thematisiert er die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko nach der Explosion der „Deepwater Horizon“, das „Quntzeros-Arkanum“ handelt vom Irakkrieg und von der Doppelmoral der Amerikaner, „für die Frieden doch nur Krieg / bedeutet oder eine Frau zum Vögeln / und die an Werten festhalten / von denen der Rest der verdammten Welt / weiß, dass wir sie längst / entsorgt haben.“

Mit einer solchen Haltung macht man sich nicht beliebt in „God’s own country“. Das hat Hirschman am eigenen Leib erfahren, der in den Sechzigerjahren Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California lehrte. Als er nämlich seine Studenten – zu denen auch Jim Morrison zählte – dazu aufrief, sich gegen die Einberufung zum Vietnamkrieg zu wehren, verlor er seine Anstellung an der Universität. Hirschman kann vom Schreiben nur ein winziges Hotelzimmer bezahlen, das er mit seiner Frau bewohnt, und das, obwohl ihn Ernest Hemingway als einen der größten Dichter Amerikas bezeichnet hat. Trotz dieses Lobes ist er sehr bodenständig: „Jeder von euch ist ein Dichter“, ermutigt er das Publikum, „überhaupt ist jeder Mensch ein Dichter.“ Spricht’s und trägt „Pfad“ vor, eine Anleitung zum Dichten: „Geh zu deinem gebrochenen Herzen./Wenn du glaubst, du hast keins, beschaff dir eins. / Beschaff dir eins, aber sei aufrichtig …“ Während er liest, kommt ein Mann auf das Podium und spielt Saxofon. Das also ist Benny. Er hat es nicht früher geschafft, sagt Hirschman entschuldigend. Nach der Lesung lässt er seinen breitkrempigen Hut rumgehen. „Als Kommunist bin ich nicht der Meinung, dass Dichter umsonst lesen sollten.“

Und dann gibt es eine Zugabe. „Fidel Castro“ stilisiert den ehemaligen kubanischen Staatschef zum „Präsidenten des anderen Amerika“. Mein Begleiter runzelt die Stirn: „Was für ein Fossil!“ Es ist nicht ganz klar, wen von beiden er meint. KRISTINA RATH