Der Nazi-Richter urteilte bis zum Schluss

Die Geschichte des Hans Filbinger: Der Jurist verurteilte selbst nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch Matrosen

BERLIN taz ■ 2.800 Kriegsrichter taten Dienst in der deutschen Wehrmacht, beförderten Deserteure und Wehrkraftzersetzer zu Tausenden ins Jenseits, verwischten nach 1945 größtenteils die Spuren ihrer Tätigkeit, behaupteten, nur nach geltendem Recht geurteilt zu haben, machten in der Bundesrepublik Karriere und starben mit reinem Gewissen.

So auch der ehemalige Marinestabsrichter Hans Filbinger, der allerdings das Pech hatte, als Ministerpräsident Baden-Württembergs 1978 auf ein verändertes politisches Klima zu treffen, als er, nach einer ersten Enthüllung Rolf Hochhuts, ins Fadenkreuz insistenter Rechercheure geriet. Filbingers anfängliches Leugnen, seine wütenden Unschuldsbeteuerungen, sein – allerdings erfolgloser – Rekurs auf Gerichte führten dazu, dass seine Karriere als Militärjurist aus den Akten, soweit noch vorhanden, minutiös aufgearbeitet wurde. Eine gute Übersicht seines Wirkens findet sich in dem zusammenfassenden Bericht Ricarda Bertholds, der 2006 innerhalb des von Wolfram Wette herausgegebenen Bandes „Filbinger – eine deutsche Karriere“ erschienen ist. Der Bericht stützt sich auf veröffentlichte Recherchen der Historiker Florian Rohdenburg und Heinz Hirten. Filbinger trat als Richter von März 1943 bis zum Kriegsende in 169 Verfahren als Richter und in 63 Verfahren als Ankläger auf. Komplette Gerichtsakten sind kaum erhalten, die Bandbreite der Urteile reicht von einigen Freisprüchen über Gefängnisurteile bis zur Verhängung von Todesstrafen. Tätigkeitsbereich des Marinerichters war zuerst die Deutsche Bucht, später der Oslo-Fjord. Am 17. und 19. April 1945 verurteilte er einen Matrosen und einen Soldaten wegen Mordes und Fahnenflucht in Abwesenheit zum Tode. Die erfolgreiche Flucht der beiden Verurteilten, die mit ihren Schiffen desertiert waren, nach Schweden hat Filbinger später zu seinen Gunsten gedeutet – sie waren schließlich nicht mehr greifbar.

Der bekannteste Fall betrifft den Matrosen Walter Gröger, der auf Antrag Filbingers im Januar 1945 als Deserteur nach zweijähriger Gefängnishaft verurteilt und am 16.März unter Beisein Filbingers hingerichtet wurde. Filbinger trat erst spät in das Verfahren ein, sorgte allerdings dafür, dass die Urteilsverschärfung auf Todesstrafe gegenüber einem ersten Verfahren glatt durchging. Auch setzte er sich nachhaltig dafür ein, dass in den letzten Wochen des Krieges die Bestätigung des Urteils durch einen Gerichtsherren beigebracht und unmittelbar danach die Hinrichtung vollzogen wurde.

Auch nach der Kapitulation beließen die jetzt britischen Kriegsherren Filbinger bis Februar 1946 im Amt. Am 1. Juni 1945 urteilte Filbinger gegen einen Matrosen, der sich zu Anfang Mai „unerlaubt von der Truppe entfernt hatte“. Obwohl Filbinger nicht mehr wegen Fahnenflucht verurteilen konnte, sah er doch das Verhalten des Matrosen als „unehrenhaft“ und „moralisch verwerflich“ an, verknackte ihn zu einem Jahr und einem Monat Gefängnis und entkleidete ihn der Offizierswürde.

CHRISTIAN SEMLER