: Jugendamt entdeckt das Kindeswohl
BEZIRK DROHT ROMA
Die neuste Volte des grün regierten Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg in Sachen obdachloser Roma ist an Perfidie kaum zu überbieten. Die Familien sollten sich eine Unterkunft suchen, wurde ihnen dieser Tage vom Jugendamt erklärt, sonst werde man ihnen die Kinder wegnehmen. Begründung: Kindeswohlgefährdung durch das Leben im Freien.
Das haben die amtlichen Jugendschützer ja eine ganz brisante Entdeckung gemacht. Für Kinder ist es nicht gut, in einem Auto zu leben, im Zelt oder in einer Bretterbude ohne Wasser und Strom? Scherz beiseite: Die eigentliche Frage lautet, warum die Jugendschützer jetzt erst aktiv werden, nachdem sie die obdachlosen Familien lange toleriert haben. Mit dem Kindeswohl kann das nicht zusammenhängen – das war vor ein oder drei Jahren auch schon gefährdet.
Was sich geändert hat, ist das Verhalten der Anwohner. Diese beschwerten sich immer häufiger bei Polizei und Ordnungsamt über die obdachlosen Familien und erstatteten Anzeige, so die grüne Bürgermeisterin. Da muss sie natürlich aktiv werden! Kann doch nicht sein, dass anständige Kreuzberger Grünen-Wähler sich belästigt fühlen. So weht seit einigen Wochen, nach Jahren des Wegschauens und Wegduckens, ein neuer, autoritärer Wind durch SO36. Erst wurden die Autos von Roma in der Görlitzer Straße abgeschleppt, jetzt macht das Jugendamt Druck.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich muss etwas passieren. Es ist ein Skandal, dass Familien, teilweise mit Säuglingen und kranken Alten, in Zelten leben müssen. Auch für die Anwohner ist es unangenehm, tagtäglich mit solch extremer Armut konfrontiert zu werden. Nun ist es aber so, dass der Bezirk verpflichtet ist, Obdachlose unterzubringen. Macht er aber nicht. Und erklärt den Familien lapidar, man habe eben keine Wohnungen zur Verfügung. Den Schuldigen hat die Bürgermeisterin auch schon ausgemacht: Es ist der böse Senat, der wieder mal kein Geld gibt.
Während die Politik das beliebte Verantwortungspingpong spielt, wird den Betroffenen nicht geholfen: Sie werden in Angst und Schrecken versetzt. Vielleicht gehört genau das zum Kalkül: dass die Familien lieber untertauchen als auf den nächsten Besuch des Jugendamts warten. Wen kümmert’s schon, dass der nächste Unterschlupf für die Kinder kaum besser sein wird als dieser. Hauptsache, sie sind weg.
SUSANNE MEMARNIA
Schwerpunkt SEITE 44, 45