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Archiv-Artikel

„Attacke aus dem Nichts“

JETZT MAL IM ERNST … Haben die Menschen mehr Stress als früher oder werden sie empfindlicher, Peter Zwanzger?

Peter Zwanzger

■ 45, ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt für Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatische Medizin am kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg am Inn. Er leitet dort den Forschungsbereich Angst und Depression.

INTERVIEW PATRICK BAUER

sonntaz: Herr Zwanzger, stimmt der Eindruck, dass psychische Erkrankungen in Deutschland zunehmen?

Peter Zwanzger: Ja, diese Wahrnehmung ist richtig. Die Erhebungen der letzten Jahre bestätigen, dass erheblich mehr Menschen wegen psychischer Störungen krankgeschrieben werden. Am häufigsten sind Angststörungen. Jeder Vierte entwickelt hierzulande irgendwann in seinem Leben mal eine solche Krankheit. Der Anstieg ist aber zum Teil auch damit zu erklären, dass Angststörungen heute häufiger erkannt werden.

Warum entwickeln so viele Menschen Angststörungen?

Stress ist sicherlich ein entscheidender Faktor. Wir gehen von drei Gründen für den Ausbruch einer Angststörung aus: Veranlagung, Stressbelastung und kritische Lebensereignisse. Veranlagung heißt, wie anfällig Menschen sind. Die Stressbelastung wird zum Beispiel durch erhöhten Druck am Arbeitsplatz beeinflusst. Kritische Lebensereignisse wie eine Kündigung oder Trennung können die Stressbelastung punktuell deutlich erhöhen.

Wie äußert sich eine Angststörung?

In Deutschland ist die häufigste Ausbruchsform eine Panikattacke. Solche Attacken kommen mit einer ungeheuren Intensität und scheinbar aus dem Nichts. Sie bekommen Herzrasen, schwitzen und kommen nie zur Ruhe.

Wann ist das Risiko für solche Attacken besonders hoch?

Schwer zu sagen. Panikattacken werden selten durch ein einzelnes Erlebnis wie eine Kündigung ausgelöst. Es ist die Gesamtbelastung, der Stress generell.

Wir leben in der freiesten und sichersten Gesellschaft der Menschheitsgeschichte. Wieso nimmt der Stress nicht ab?

So ist der Mensch nicht gestrickt. Wir beobachten Angststörungen zunehmend in Situationen, in denen keine reale Gefahr für den Körper existiert. Selbst jemand, der in Deutschland seinen Job verliert, muss keine Angst um sein Leben haben. Aber wir gehen in der Psychologie davon aus, dass es sich mit Angst ähnlich verhält wie mit Schmerz. Jeder hat eine individuelle Schmerzgrenze, das gilt auch für Angst.

Werden die Menschen also immer empfindlicher oder steigt die Stressbelastung tatsächlich?

Ich glaube, der Stress hat zugenommen. Früher wurden die Dinge von oben herab bestimmt. Viele Menschen waren in ihrer Entwicklung eingeschränkt, mussten sich mit ihrem Leben abfinden. Jetzt leben wir in einer Zeit, in der viele Menschen selbst bestimmen können und müssen. Das bedeutet aber auch ein größeres Risiko und mehr Unsicherheit – und schafft einen Boden für Angst und Stress.

Wieso können Menschen damit so schlecht umgehen?

Ein Grund ist sicherlich, dass die sozialen Beziehungen unsicherer geworden sind. Stabile Familien zum Beispiel sind der sicherste Rückhalt, davon gibt es aber immer weniger. Ich beobachte das auch in der Klinik: Patienten aus funktionierenden Familien werden schneller gesund. Ein anderer Grund ist, dass die Zeiten, in denen man sich erholen kann, immer kürzer werden.

Es gibt den Begriff der „German Angst“. Sind Deutsche besonders anfällig für Stresserkrankungen?

Wir sind sicherlich eine Gesellschaft die vorsichtiger ist als andere, im weitesten Sinne eine Gesellschaft der Angst. In Südamerika gibt es zum Beispiel ein höheres Vertrauen gegenüber dem Schicksal, die Leute sind ruhiger, entspannter und auch fester in einer Religion verankert.