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Archiv-Artikel

Signifikanten in schwerer See

Zeichentheoretiker, Sprachanalytiker, Bedeutungsdeuter bevölkern diesen Bleistiftkosmos. Dringt man bei jeder Wiederholung tiefer in diese Bilder ein? Oder sind es seine Bilder, die tiefer in uns dringen? Martin tom Diecks Comic „Der unschuldige Passagier“ wurde als Reprint wiederveröffentlicht

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Ein Mann treibt auf hoher See, allein, verlassen. Bald fehlen seinem Ruderboot ein paar Planken. Wenig später fehlt dem Mann das Boot, gleitet er hinab in den Strudel der Zeichen und Bedeutungen. Der Mann landet auf einem düsteren Schiff, findet düstere Weggefährten und hat eine düstere Ahnung: Niemand weiß, wohin diese Reise geht.

Martin tom Diecks „unschuldiger Passagier“ führt bereits vor, was die jüngeren Comics des 1963 geborenen Hamburgers auszeichnet. Allen voran seine gemeinsam mit Jens Balzer entstandene Gilles-Deleuze-Hommage „Salut! Deleuze“ (2000). Da ist das Wasser, so flüchtig wie allegorisch, Martin tom Diecks liebste und notwendigste Materie. Das ist das Suchen, nach dem Sinn wie einem System. Da ist das Motiv der Wiederkehr – „Differenz und Wiederholung“, heißt es bei Deleuze. In „Salut! Deleuze“ rudert der Fährmann Charon den Philosophen fünfmal in identischen Bildern ins Totenreich hinüber. Nur das Empfangskomitee wechselt. Mal gibt Michel Foucault den alten Bekannten. Dann Roland Barthes oder Jaques Lacan. Zeichentheoretiker, Sprachanalytiker, Bedeutungsdeuter, Martin tom Dieck arbeitet mit ihnen und sich – unangestrengt – an ihnen ab.

Entstanden ist „Der unschuldige Passagier“ weit weg vom Meer. 1993 war Martin tom Dieck Stadtzeichner im oberhessischen Alsfeld. Vogelsberg, Fachwerkidyll, das Rathaus so pittoresk, dass es als Miniaturmodell auf jeder zweiten Modelleisenbahnanlage steht. Noch im gleichen Jahr wurde „Der unschuldige Passagier“ ein erstes Mal veröffentlicht. In einer Auflage von wenigen hundert Stück. Jetzt hat der feine Berliner Verlag Reprodukt den Comic wiederveröffentlicht. Als Reprint der Originalausgabe, nur an ein einziges Bild – Differenz und Wiederholung – soll der Zeichner noch einmal Hand angelegt haben.

Martin Tom Diecks Comics haben nichts von Modelleisenbahnanlagen. Sie bilden nichts nach, sie bilden nichts ab. Sie finden im Gegenteil Bilder für eigentlich nicht Abbildbares. Auf die Psychoanalyse wird beim Blick auf sein Werk deshalb gerne verwiesen. Oder umgekehrt, hier sind wir wieder bei Deleuze, auf eine Kritik derselben.

Am Ende sitzt „ Der unschuldige Passagier“ wieder in jenem kleinen Ruderboot, mit dem er doch auf den ersten Seiten so dramatisch wie lakonisch gekentert war. Die ewige Wiederkehr des Immergleichen also? Aber in den Comics von Martin tom Dieck sind selbst dieselben Seiten mit jedem Lesen anders, dringt man von Mal zu Mal tiefer in die Bilder ein.

Oder sind es seine Bilder, die tiefer in uns dringen? Wie übereinanderliegende Farbschichten blättern die Bedeutungsebenen von den Wänden jenes Geisterschiffs. Ausschnitte aus nautischen Karten sind darunter und immer wieder Textstellen seiner liebsten Autoren. Genau drapierte Graffiti im tosenden Meer von flüchtigen Bleistiftstrichen. Bedeutsam ist jeder einzelne von ihnen.

Martin tom Dieck: „Der unschuldige Passagier“. Reprodukt, Berlin 2007, 296 Seiten, 22 €