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Archiv-Artikel

Gott übernimmt

STÜCKEMARKT Steilvorlage für Pädophobe: Neue Dramen von Juri Sternburg und Konradin Kunze

Die zwei Jungs sind echt gemein. Sie nehmen dem Sprayer so gar nicht seine Rolle als Kämpfer gegen das Schweinesystem ab. Na, dann erklär doch mal, was systematisch an dem System ist, fordern sie ihn heraus, aber da liegt er längst schon als ein winselndes Häufchen zwischen ihnen. Winselnd nicht nur, weil sie seine Phrasen so geschwind zerfetzen als wären sie Klopapier, sondern winselnd auch, weil da schon ein anderer tot in der U-Bahn liegt, zu dem die beiden auch nicht nett waren.

Man sieht das alles vor sich. Nein, man glaubte das alles vor sich zu sehen in der szenischen Lesung von Juri Sternburgs Stück „Der Penner ist jetzt schon wieder woanders“, die David Bösch für den Stückemarkt des Theatertreffens eingerichtet hat. Tatsächlich sitzen da nur zwei junge Schauspieler, Jörg Pohl und Mirco Kreibich, als Igor und Andrej, auf ihren Stühlen mit einem Manuskript in der Hand und sprechen die Opfer sowohl wie die Täter. Die Mimik geht mit, aber die ganze Gewalt und das Ambiente werden nur von der Sprache evoziert. Und gerade dadurch wird die Lust am Ungeheuerlichen so plastisch: Die Fantasie von der Übertretung aller Gesetze und aller Verbote, diese Selbstermächtigung schieben sich die Schauspieler mit der Genugtuung derer zu, die dafür ja nicht erwischt oder bestraft werden können. Ein inneres Grinsen liegt deshalb über der äußeren Grausamkeit.

Das ist der Reiz der szenischen Lesungen, das bloß Skizzenhafte steigert die Momente der Überraschung, der fehlende Aufwand kommt einer Verdichtung zugute. Plötzlich sitzt ein alter Mann mit strähnigem Haar und dicker Brille zwischen den beiden und behauptet, Gott zu sein, der vor jedem fünften Mord mal eben Rücksprache nimmt, was das Ganze eigentlich soll. Keinen Moment zweifelt man an seiner Rolle, auch die beiden jungen Totschläger zweifeln nicht. Jetzt übernimmt Gott die Deutungshoheit über das Geschehen, trickst sie aus wie sie zuvor ihre Opfer, amüsiert sich über die Vorhersehbarkeit ihrer Positionen; dass ihm das nicht bekommt, man ahnt es schon.

Dass Juri Sternburgs Stück funktioniert, seine das Ethos ständig aushebelnde Logik den Sätzen mit Verblüffung folgen lässt, hat diese Lesung bewiesen. Die Dialoge heizen der Denkmaschine im Kopf ein und den Performern. Was das Stück aber eigentlich ist, bleibt dennoch schwer zu sagen. Eine Farce voll bösem Witz über den hilflosen Umgang mit jugendlichen Gewalttätern? Ein Spaß am unkorrekten Denken? Eine Karikatur von Angstfantasien? Eine Steilvorlage für Pädophobe – die, wie einer der Jungs erklärt, Angst vor Jugendlichen haben?

Vermutlich macht, dass dies offen bleibt, mit das Potenzial von Sternburgs Text aus. Ganz anders als bei dem zweiten am Mittwoch vorgestellten Text von Konradin Kunze, „Foreign Angst“. Der ging gewissermaßen an seiner Eindeutigkeit zugrunde und schien am Ende so schlicht wie das Gemüt des jungen Mannes, der ein Krisengebiet bereist, um etwas gegen das schlechte Gefühl der Mitverantwortung zu unternehmen, und sich bald in seinem Unverständnis verfängt.

Fünf Texte werden auf dem Stückemarkt des Theatertreffens in szenischen Lesungen vorgestellt, drei weitere in einem Dramatikerworkshop bearbeitet. Das verleiht dem Festival für einige Tage ein aufgeregtes Wuseln junger Leute in einer Atmosphäre zwischen Party und Kolleg. Das ist gut so, die hohen Preise der Festivalkarten haben nämlich sonst auch einen fast pädophoben Effekt und lassen die gediegenen Bildungsbürger unter sich. Der Stückemarkt hingegen vermittelt das Gefühl, dass das Theater noch eine Zukunft vor sich hat. KATRIN BETTINA MÜLLER