: Der Täter hatte zwei Stunden Zeit für sein Todeswerk
Bei dem Massaker an der Universität in Blacksburg im Bundesstaat Virginia sind noch viele Fragen offen – unter anderem das Motiv des Amokläufers
WASHINGTON taz ■ Fast wirkte es gespenstisch, wie routiniert die US-amerikanische Öffentlichkeit mit Amoklauf in Schulen und Universitäten umgeht. Erste Handy-Bilder im Fernsehen. Kurze Zeit später eine Armada von Ü-Wagen und Reportern, schließlich die ersten bestürzten Augenzeugen, die immer wieder sagen, sie könnten es nicht fassen und alles sei so schrecklich.
Auch die US-Politiker wirkten traurig, aber so, als habe Leben in Amerika eben seinen Preis. Präsident George W. Bush, Parlamentschefin Nancy Pelosi, alle sprachen sie über das Unfassbare, Tragische. Alles klang, wie schon manches Mal gesagt. Nur Stunden nach dem, was die US-Medien als „Massaker in Blacksburg“ bezeichnen, schwärmten Trauerbegleiter auf den Campus der kleinen Stadt im US-Bundesstaat Virginia. Psychologen und FBI-Profiler gaben ihr Wissen in Interviews zum Besten, und erste Warnungen vor Nachahmungstaten machten die Runde.
Vielleicht ist es auch nur das, was man zu einem so kaltblütigen Amoklauf wie dem vom Montagmorgen sagen kann. Die Schüsse, berichteten Augenzeugen später, seien so regelmäßig erfolgt, dass manche zunächst glauben, sie kommen von einer nahe gelegenen Baustelle. So, als treibe ein Kolben ein Stahlrohr in den Grund. Ein Schuss folgte dem anderen, manchmal mit Pausen. Das waren die Momente, in denen der Täter sein Magazin nachlud, um dann ebenso ruhig und regelmäßig weiter seine Kommilitonen abzuknallen.
Die Bluttat sei von einem südkoreanischen Studenten namens Cho Seung Hui verübt worden, sagte der Polizeichef der Universität, Wendell Flinchum. Der 23-Jährige habe mit einem Ausländervisum an der Virginia-Tech-Universität Englisch studiert und in einem Wohnheim auf dem Campus gelebt.
Der Täter hat 33 Studierende und Professoren erschossen sowie 15 Menschen verletzt. Die Bluttat fand in einer Deutschklasse statt. Beim Eintreffen der Polizei habe sich der Schütze das Leben genommen, sagte Flinchum. Der junge Mann soll sich von hinten in den Kopf geschossen haben, von seinem Gesicht ist nichts mehr übrig geblieben. Zu seinem Motiv gab es keine Erklärungen. Nichts.
Vor dem Amoklauf waren am frühen Montagmorgen eine Studentin und ein Student in einem Wohnheim auf dem Campus getötet worden. Die Polizei untersucht nach den Worten von Flinchum, ob beide Fälle in einem Zusammenhang stehen. Eine Augenzeugin sagte, es handele sich um einen jungen Mann asiatischer Abstammung. „Er war wie ein Pfadfinder gekleidet“, sagte sie im Fernsehen. Schnell richtete sich die Wut vieler Studenten gegen die Polizei, die nach der ersten Schießerei, der eine junge Frau und ein junger Mann zum Opfer fielen, eigentlich nichts unternommen hatte. Sie hatte zugelassen, dass der Lehrbetrieb fortgesetzt wurde. Weder wurde der Campus abgeriegelt, noch wurden die Studenten geschützt. Der Amokläufer hatte fast zwei Stunden Zeit, den Campus zu überqueren und sein Todeswerk in einem anderen Gebäude der Universität fortzusetzen. Vertreter der Universität rechtfertigten das Verhalten damit, dass die erste Bluttat als Einzelfall bewertet wurde. Viele der Betroffenen werfen den Verantwortlichen deswegen vor, sie hätten viel zu spät vor dem Amokläufer gewarnt. Überhaupt tauchte im Laufe des Montagabend noch die Nachricht auf, die Polizei habe zwei Bombenwarnungen auf dem Campus zu Beginn des Monats als Routinedrohung abgehakt und keine verschärften Sicherheitsmaßnahmen angeordnet.
Der Amoklauf begann einem Mitstudenten zufolge nach einem Streit des Täters mit seiner Freundin. Der Schütze habe seine Freundin im Streit erschossen, berichtete am Dienstag ein taiwanesischer Student in einem Interview des taiwanesischen Kabelfernsehkanals CTI aus den USA. Einen Mann, der den Streit schlichten wollte, habe er ebenfalls getötet. Am Schwarzen Brett der Universität hatten Studenten später eine Botschaft angepinnt. „Unsere Gedanken und Gebete sind bei der Technischen Universität von Virginia und bei allen, die von den Ereignissen am 16. April betroffen sind.“ Das Blutbad in Blacksburg gilt als das schwerste Massaker mit Schusswaffen in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
ADRIENNE WOLTERSDORF