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Archiv-Artikel

Die neue Reifeprüfung

ViertklässlerInnen drängen zum Gymnasium: Viel mehr als erwartet nehmen in der kommenden Woche am Prognoseunterricht teil, weil ihre Eltern die Einstufung der LehrerInnen nicht akzeptieren

von NIHAD EL-KAYED UND NATALIE WIESMANN

Mehr Kinder als erwartet müssen kommende Woche zum Prognoseunterricht. In Bochum wurden 88 GrundschülerInnen eingeladen. „Das liegt weit über unseren Erwartungen. Wir hatten mit nicht einmal 30 gerechnet“, sagt Wilfried Wißmann vom Schulverwaltungsamt Bochum. Auch in Bonn, Münster und Bielefeld müssen mehr Grundschulkinder zum Test als von den Schulämtern zuvor angenommen.

Der Prognoseunterricht ist Teil der schwarz-gelben Schulnovelle und wird ab Montag kommender Woche zum ersten Mal durchgeführt. Der dreitätige Eignungstest soll die Wahl der weiterführenden Schule objektivieren: Ihm müssen sich alle ViertklässlerInnen unterziehen, deren Eltern eine höhere Schulform wünschen als die Grundschule empfiehlt.

Umgekehrt ist der Prognoseunterrichts nicht zwingend: Wenn Eltern ihr Kind zum Beispiel statt auf das empfohlene Gymnasium auf die Realschule schicken wollen. Eine Teilnahme wird ihnen von den Schulämtern lediglich nahe gelegt. In Bochum haben in den drei angeschriebenen Fällen alle Eltern abgewunken – sie wollen bei ihrer Entscheidung bleiben.

Während des Prognoseunterrichts schätzen drei LehrerInnen den Leistungsstand der Kinder in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften ein. Ein negativer Bescheid wird nur dann ausgestellt, wenn die PädagogInnen einstimmig der Überzeugung sind, dass das Kind für die von den Eltern gewählte Schulform nicht geeignet ist. Die Eltern können gegen den Bescheid Widerspruch einlegen und vor das Verwaltungsgericht ziehen.

Durch die Unterrichtssituation soll der Eindruck einer Prüfung vermieden werden. Daran zweifelt Michael Schulte, Geschäftsführer der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW: „Das Kind hat nicht die gewünschte Empfehlung bekommen und die Eltern fordern: ‚streng dich an.‘ Das ist eine klassische Stresssituation.“ GrundschullehrerInnen seien nicht in der Lage, eine treffende und „trennscharfe“ Empfehlung abzugeben, so Schulte. Die frühe Selektierung der Kinder sei aber das Grundproblem.

Auch Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen lehnt den Prognoseunterricht ab: „Eltern und Kinder können die Entscheidung nicht mehr fällen, aber sie müssen die Folgen tragen.“ Die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW befürwortet hingegen den dreitägigen Test: „Es kann zu einem Leidensweg kommen, wenn das Kind nicht die geeignete Schulform besucht“, sagt Geschäftsführerin Barbara Kols-Teichmann. Eine Einschränkung des Elternwillens liege de facto nicht vor, da nur ein bis zwei Prozent der Grundschulabgänger betroffen seien.

Wilfried Bos ist Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung und hat den Prognoseunterricht für das Schulministerium mitentwickelt. Er glaubt, dass weder die Eltern noch die GrundschullehrerInnen bei der Wahl der weiterführenden Schule immer richtig liegen. „Untersuchungen haben gezeigt, dass auch Lehrer in ihrer Entscheidung vom sozialen Hintergrund der Eltern beeinflusst werden“, sagt Bos. „Doch die Lehrermeinung ist immer noch objektiver als die der Eltern.“