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Archiv-Artikel

Erfolg und Schande

BANGLADESCH Das dürfte überraschen und missfallen: Der Erfolg der Mikrokredite als Mythos geoutet

Es war eine alte Frau, die Lamia Karim hellhörig machte. Die Witwe erzählte, wie sie einen Mikrokredit aufgenommen hatte und auf dem Heimweg ihrem Neffen begegnete. Dieser hatte von dem Geld gehört und sprach sie an: „Ich brauche Geld für mein Unternehmen, und du, meine Tante, bist verpflichtet, mir das Geld zu geben.“ Er bekam das Geld. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Behauptungen der Mikrokredit-Organisationen: Frauen seien vorbildliche Unternehmerinnen, erzählen sie, und die Rückzahlungsquote für Mikrokredite betrage mehr als 98 Prozent.

Lamia Karim, selbst gebürtige Bangladeschi und Anthropologin an der University of Oregon, fragte sich, wie beides wahr sein konnte: dass Frauen in den Dörfern Bangladeschs der Willkür ihrer männlichen Verwandten ausgesetzt und gleichzeitig unter den kreditwürdigsten Menschen der Welt sind. Ende der 90er Jahre verbrachte sie mehrere Monate im Südwesten Bangladeschs, um genauer zu untersuchen, wie Mikrokredite das Leben der Frauen verändert hatten, in den vergangenen Jahren haben auch andere Forscher ihre Ergebnisse bestätigt.

Der Mythos der Mikrokredite hat Bangladesch weltberühmt gemacht. In den 80er Jahren lieh der Ökonom Muhammad Yunus einer Frau aus seinem Nachbardorf wenige Dollar für ein Geschäft. Sie schaffte es, sich selbstständig zu machen. Yunus gründete die Grameen Bank, die bis heute Millionen Dollar als Mikrokredite vergibt. Als 2006 Yunus und seine Bank gemeinsam den Friedensnobelpreis erhielten, porträtierte ein Filmteam die Frau. Inzwischen wohnte sie in einem doppelstöckigen Haus aus Ziegelsteinen. Sie, eine der Ärmsten unter den Armen, hatte es geschafft.

Karims Forschungsergebnisse sind kürzlich in dem Buch „Microfinance and its Discontents“ erschienen und korrigieren diesen Mythos: Das von Frauen ausgeliehene Geld wird meist von Männern kontrolliert, nur selten verändert sich die Lage einer Frau grundsätzlich, und häufig nehmen sie neue Kredite auf, um alte zurückzuzahlen. Karim beschreibt die Strukturen des Systems Mikrokredit: Eine „Ökonomie der Schande“ hält die Schuldnerinnen zahlungswillig, denn als Sicherheit für den Kredit hält die zerbrechliche Ehre der Frau her. In einer Gesellschaft, wo der Platz der Frau im Hauhalt ist, werden säumige Kreditnehmerinnen öffentlich gedemütigt. Die Männer verstoßen ihre so entehrten Frauen. Schon die Androhung dieses Schicksals sorgt dafür, dass die Frauen alles tun, um ihre Kredite zurückzuzahlen.

Eindrucksvoll erzählt Karim von Szenen, die heute zum Alltag in Bangladesch gehören: Geldverleiher sitzen neben Vertretern der Mikrokredit-Organisationen, denn Frauen nehmen lieber horrende Zinsen auf sich, als ihre Raten nicht zu zahlen; die NGO-Vertreter bieten lieber Folgekredite an, als einzugestehen, dass ein Kredit nicht zurückgezahlt werden wird; Familien, die hochverschuldet sind, verschwinden lieber in die Slums der Städte, als öffentlich bloßgestellt zu werden. In ihrer Abwesenheit werden ihre letzten Besitztümer – Wellblechhütte und Bett – von den Kreditgebern beschlagnahmt.

Eines aber haben Mikrokredite erreicht: Für ländliche und urbane Eliten haben sie Tausende Arbeitsplätze geschaffen. Auf dem Land verteilen Tausende junge Männer und Frauen Gelder und treiben sie wieder ein. In den Städten haben Universitätsprofessoren in den Mikrokredit-Organisationen gut zahlende Arbeitgeber gefunden – sie nennen sich nicht mehr „Forscher“, schreibt Karim, sondern „Berater“.

Zuletzt zerschlägt Karims Buch auch den Mythos um Muhammad Yunus und die Grameen Bank. Die Frau, mit der alles begann, ist inzwischen verstorben. Als Lamia Karim deren Töchter besuchte, fand sie zwei bettelarme Frauen in Hütten vor. Das Haus aus dem Dokumentarfilm ist ein Nachbarhaus gewesen. Yunus, so erzählten die Frauen, sei auf Kosten ihrer Mutter berühmt geworden und habe sie nun vergessen. LALON SANDER

Lamia Karim: „Microfinance and its Discontents. Women in Debt in Bangladesh“. University of Minnesota Press 2011, 296 Seiten, 22,99 Dollar