die geheimen botschaften der heiligen kühe von MICHAEL RINGEL
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Ich war irgendwo zwischen Leipzig und Marl unterwegs, als die Anfrage nach einem Foto kam. Ich hatte einem kleinen Magazin ein Interview gegeben über grundsätzliche Probleme der Satire, und jetzt brauchten die Kollegen „ein Bildporträt mit einer Auflösung von 300 dpi“. Ich habe keine Ahnung, was „dpi“ oder „Auflösung“ bedeutet, ich wusste allerdings, dass ich auf dem Laptop nur ein einziges vorzeigbares Foto von mir hatte. Das war recht klein. Zufälligerweise hatte mich meine Mutter vor kurzem fotografiert und mir das Bild anschließend zugemailt.

Meine Mutter? Warum eigentlich nicht, dachte ich und schrieb ihr eine Mail, in der ich ihr erklärte, dass ich das Foto für ein Interview bräuchte: „Könntest du mir bitte dieses Bild, das ich anhänge, damit du weißt, welches ich meine, noch mal in einer größeren Auflösung zuschicken. Vielen Dank.“ Es dauerte nicht lange, dann kam ihre Antwort. Sie bestand aus einem Satz: „Danke für das schöne Foto. Gruß, Mama.“

Wie bitte?! Ich wollte doch von ihr ein Foto! Wieso bedankte sie sich für ein Bild, das sie selbst aufgenommen hatte? War es nur ein Scherz von ihr, oder steckte in der kurzen Mail eine geheime Botschaft? Wenn es sich aber um einen Scherz handelte, würde ich mich mit meinen Mitteln rächen und die ganze Wahrheit über meine Mutter schreiben, was allerdings nicht ganz einfach sein würde …

Mütter sind die heiligen Kühe der Komik. Über fast alles spotten Satiriker, sehr selten jedoch über ihre Mütter. Autorinnen führen meist irgendwelche Mütter-Töchter-Kriege, und Autoren fürchten sich, als Muttersöhnchen zu gelten. Beide Geschlechter eint die Angst, ihre Muttertiere zu verletzen. Oder sich selbst, denn Mütter können eine unglaublich peinliche Art haben.

Seit Jahren versuche ich zum Beispiel, einen Kollegen dazu zu bewegen, über die schrulligen Angewohnheiten seiner Mutter zu schreiben, deren Lieblingssport es ist, Entweder-Oder-Fragen zu ignorieren: „Sollen wir heute zum Inder oder zum Chinesen essen gehen?“ – „Ja.“ – „Das war eine Entweder-Oder-Frage, Mutti!“ – „Ja.“ Schon lange fragt sich der Kollege, ob seine Mutter ihn in den Wahnsinn treiben will oder ob sie ihm auf diese Weise etwas Bestimmtes sagen möchte.

Wollte auch meine Mutter mir etwas sagen? Sollte ich über den schlichten Satz hinaus denken? Dann musste ich lediglich ihren Gedanken folgen: „Das Foto ist schön, so wie es ist; die Größe reicht völlig aus; und überhaupt hättest du früher gar kein Foto von dir an ein Magazin geschickt, weil es gar kein Foto braucht; die Worte müssen für sich selbst sprechen; nur eitle Journalisten tauchen ständig mit Bildern neben ihren Texten auf; du bist wohl neuerdings genauso ein gockelnder Fatzke wie …“ Genug! Es reicht! Danke, Mama, danke. Ich habe schon verstanden.

Wahrscheinlich hat meine Mutter den viel zu kompliziert verschachtelten Satz in meiner Mail nicht richtig verstanden. Aber wie sie es in ihrer Antwort mit einem einzigen geraden Satz wieder einmal geschafft hat, mich gleichzeitig in die Enge zu treiben und mir auf die Sprünge zu helfen – bewundernswert! Ja, ich bin beinahe ein wenig stolz auf sie: Das ist eben meine Mutter! Oder hatte sie sich doch nur einen Scherz erlaubt?