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Archiv-Artikel

Das Böse im Spitzenkragen

Die Literaturoper ist wieder auf Erfolgskurs: In Osnabrück schickt André Werner mit „Lavinia A.“ den guten alten Shakespeare in die Jetztzeit, in Brüssel werden Wedekind und Pirandello vertont. Aber die Musik im Dienste der Geschichte schont ihre Hörer

VON FRIEDER REININGHAUS

Gewalt gebiert Gewalt. Titus Andronicus, der von Shakespeare frei, aber durchaus wirklichkeitsgetreu erdichtete römische Feldherr, setzt seinen ganzen Ehrgeiz daran, die von Missernten zur Völkerwanderung getriebenen Goten irgendwo weit oben in den Wäldern des Nordens zu dezimieren. Die Moral einer aristokratischen Familie treibt ihn, römisches Recht und die römischen Götter weiß er auf seiner Seite. Freilich ist der Preis für Sieg und Beute hoch: 23 seiner 25 Söhne bleiben tot auf den Schlachtfeldern zurück. 23 Paar Stiefel stellt er auf die Stufen zum Capitol, als er vor Senat und Volk der Hauptstadt erscheint.

Aufmerksam wurde André Werner auf das heftige Frühwerk William Shakespeares durch Heiner Müllers Kommentar „Anatomie Titus/Fall of Rome“. Die Partitur des 1960 geborenen Berliner Komponisten stellt sich der Herausforderung des Wort-Stakkatos und der aus der Tiefe des historischen Raums klagenden Stimmen: Dissonante Bläser und hartnäckige Wiederholungen verweisen auf unerbittliche Situationen. Manche Schreck-Geste profiliert sich im Verlauf von neunzig weithin atemlosen Minuten, die jetzt in Osnabrück uraufgeführt wurden.

Der Gesang der Qual

Die Partie des Titus ist gelegentlich so tief gesetzt, dass der in mittleren und höheren Regionen bestens ausgestattete Sänger Genadijus Bergorulko seine liebe Mühe hat, sich vernehmlich zu machen. Doch mag dies Mittel der angestrengten, überanstrengten Hervorbringung und des Gequältwerdens durchaus absichtsvoll eingesetzt worden sein – eben für die durchgängig grausame Versuchsanordnung.

Nicht nur hinsichtlich der Grundkonstellation lässt sich André Werners Arbeit mit den beiden letzten erfolgreichen Historien-Opern vergleichen: Giorgio Battistelli wurde in hohen Tönen gelobt für seinen „Richard III.“ (in Antwerpen 2005 und Düsseldorf 2007), Detlev Glanert angesichts seines „Caligula“ (nach Albert Camus; Frankfurt 2006, Köln 2007).

So wird Werner schon als der kompetenteste Nachfolger des Opern-Doyens Hans Werner Henze begrüßt. Alle diese Arbeiten stützen sich auf Vorlagen höchst prominenter Autoren, die in den historischen Gewändern ihrer Dichtungen auch auf die politische Gegenwart zielten. Sie zeichnen sich durch eine in klaren Konturen erkennbare Handlung aus und weithin verständliche Texte und Botschaften. Die Tonspur stellt sich hier allemal in den Dienst der dramatischen Situationen, tendiert eher zum Illustrieren als zur konsequenten Eigenständigkeit und unmittelbaren Bildhaftigkeit, wie sie noch Helmut Lachenmann vor zehn Jahren in seinem „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wagte.

André Werner bietet handfestes Musiktheater mit hohem Sprech-Anteil, pointierter Musik und einem Opfer, das Mitleid herausfordert: Lavinia aus dem Hause des Titus Andronicus. Der Goten-Bezwinger dient seine Tochter dem neuen römischen Imperator Saturnius als Frau an. Doch der heiratet die von Ti- tus als Gefangene zum Triumphzug nach Rom mitgeschleppte Gotenkönigin Tamora, deren ältesten Sohn er zerfleischen ließ.

Tamora – die kräftig gebaute und stimmstarke Eva Schneidereit – erhält als eskalierende Furie Gelegenheit zur Rache. Sie stiftet die ihr verbliebenen Söhne an, Lavinias Liebhaber zu erschlagen, die jugendschöne Rivalin zu vergewaltigen und zu verstümmeln – sie reißen ihr die Zunge heraus, damit sie die Täter nicht anzeigen kann.

Die Verstümmelung der Lavinia wird von André Werner einerseits für Vokalisen der zwangsweise zum Verstummen Gebrachten genutzt, andererseits zur Einführung einer Sprechstimme, die kommentierend zum Einsatz gelangt. Insgesamt schwankt Werners Musik zwischen hartem, distanziertem Kommentar zu der alten Tragödie und Momenten der Einfühlsamkeit. Dies Changieren mag die Produktion auch für ein größeres Abonnement-Publikum akzeptabel machen – der große Namen des Autors Shakespeare tut ein Übriges, um die Bereitschaft für die Verhandlung der Grausamkeiten zu mehren.

In Osnabrück hat Regisseur Kay Kuntze im Verbund mit dem Bühnenbildner Frank Michael Zeidler die Schlächtereien auf einer kahlen Treppe angesiedelt. Die Kostüme lassen eine geografische und zeitliche Verortung des Geschehens, das halbwegs in die Jetztzeit projiziert sein mag, nicht zu. So bleibt fraglich, ob sich die Intention der Produktion tatsächlich durchsetzt, dass nämlich „die hochaktuellen politischen und philosophischen Aspekte dem Zuschauer und Zuhörer skelettiert ins Auge springen“.

Die Tuba als Begleiterin

Nicht selten gerät Musiktheater zur Erinnerungskunst. In besonderer Weise war dies auch in den letzten Wochen in Belgien zu registrieren. Z. B. bei der Uraufführung „L’Uomo dal fiore in bocca“ von Luc Brewaeys. Mit ihr ging Bernard Foccroulle in die Zielgerade seiner Intendantentätigkeit an der Brüsseler Nationaloper, er wechselt im Sommer zum Festival in Aix-en-Provence. Der Einakter stützt sich auf ein relativ frühes Stück von Luigi Pirandello, dessen Handlung gegen null tendiert: der „Mann mit der Blume im Mund“.

Ein namenloser Mann ist unterwegs, verpasst seinen Zug und kommt mit einem anderen auf dem Bahnhofsvorplatz ins Gespräch. Der, so stellt sich rasch heraus, hat wegen eines Karzinoms an den Lippen nur noch kurz zu leben und verspürt letzten Freiheitsdrang. Er ist genervt von der fürsorglichen Belagerung durch seine Frau. Musikalisch ist die Tuba seine treue Begleiterin. Brewaeys schrieb der existenziellen Situation vom Mann mit der tödliche „Blume“ im Gesicht und seinem Zufallsgesprächspartner eine sensible Musik zu, die dem Sein in kalter Zeit einen Wärmestrom zuführt.

Gleichfalls in Brüssel wurde ein Schlüsseltext der frühen Moderne noch einmal musikalisch ausgebeutet: „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind, 1891 geschrieben, uraufgeführt allerdings erst fünfzehn Jahre später, erfuhr eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte: Das Stück war nun einmal das erste Drama über Heranwachsende und Adoleszenzprobleme.

Ach, die Jugendzeit

Die Geschichte handelt vom tiefsten Unverständnis der Erwachsenen für die nächste Generation, von Verklemmungen und grotesk-hilfloser Pädagogik. Zuvorderst und ganz überwiegend sichtbar aber geht es um die Jungen: Um Wendla Bergmann, die ihr erotisches Erwachen entdeckt, dabei gewisse sadomasochistische Bedürfnisse entwickelt, und dem philosophisch-literarisch ambitionierten Melchior, der sie dazu bringt, mit ihm zu schlafen – sie kommt durch die Folgen der Abtreibung zu Tode, er wegen des „Fehltritts“ in die „Korrektionsanstalt“.

Dass dergleichen ungeniert aufs Theater gebracht wurde, war vor 100 Jahren eine massive Herausforderung für die vielen Verdrängungskünstlerinnen und -künstler im bürgerlichen Parkett. Weil sich die Probleme der Heranwachsenden in dieser langen Zeitspanne zumindest teilweise verschoben haben, scheint sich die neue Oper des an der Pädagogischen Hochschule Namur tätigen Orgel- und Improvisations-Dozenten Benoît Mernier weniger an die auf der Bühne sich tummelnde Zielgruppe zu wenden als an die älteren Herrschaften im Parkett. In deren Häuptern mag sich womöglich Erinnerung an die Jugend in den 30er-, 40er- oder 50er- Jahren regen. Sie mochten froh darüber gewesen sein, dass Wedekinds Pionierwerk nicht trashig zugerichtet und mit Rock- oder Popmusik unterfüttert wurde. Über die begrenzte Reichweite dieser mit lauten jungen Stimmen besetzten Oper kann freilich auch ein schulpädagogisches Begleitprogramm nicht hinwegtäuschen.

Benoît Merniers kompositorische Arbeit verrät handwerkliche Erfahrung und musikhistorische Kenntnisse, insbesondere die der Partituren Alban Bergs, der ja überhaupt den originären musikdramatischen Zugriff auf Wedekinds Tragödien absteckte. Freilich scheinen die Schärfen aus dem Geist der expressionistischen musikalischen Moderne ins Konziliante zurückgenommen. Es ist, als hätte diese Wedekind-Vertonung am Ende ein weißes Spitzenkrägelchen an, als kenne sie den abgründigen Ton böser Begehrlichkeit nicht.

Der Braunschweiger Generalmusikdirektor Jonas Alber, der das Werk über kurz oder lang auch nach Niedersachsen holen dürfte, prononcierte das Filigrane, die kammermusikalische Delikatesse der Partitur, deren langatmige Zwischenspiele allerdings den Konversations-Ton immer wieder allzu sehr retardieren. So entwickelt die neue konsensfähige Literaturoper auch eine sanfte Form des Schreckens. Den der Langeweile. Die Risiken der in der einen oder anderen Hinsicht experimentellen Arbeiten, denen sich Lachenmann, Battistelli in seiner Frühzeit, Adriana Hölszky oder Olga Neuwirth aussetzten, weichen sie geschickt aus. Gerade darin sind sie Indikator für ein Rollback im Musikleben und Opernbetrieb.

„Lavinia A.“, Oper nach William Shakespeare von André Werner, Theater Osnabrück; „L’Uomo dal fiore in bocca“ von Luc Brewaeys, Nationaloper Brüssel; „Frühlings Erwachen“ von Benoît Mernier, Theatre de la Monnaie Brüssel