Warkids – Jugend in Palästina

Deheisha, eine Flüchtlingssiedlung im Westjordanland. Hier droht Jugendlichen doppelte Gefahr – nicht nur durch israelische Übergriffe, sondern auch durch die Rekrutierung militanter Palästinensergruppen

VON MARC WIESE

Es war drei Uhr morgens, als israelische Soldaten seine Kindheit beendeten. In der Nacht vor Ramadan stürmten sie maskiert in das Haus im Flüchtlingslager Deheisha in Bethlehem und verhafteten den Jungen. Fünfzehn war er damals. In dieser Nacht begannen seine dunklen Erinnerungen. Der Junge heißt Mohammed Najar und sitzt auf einem Bett. Hinter ihm liegen eine Reihe Teddybären und rosa Kissen. Verzierte Bildchen hängen an der Wand. Eine liebliche Plüschwelt gegen seine Erinnerungen. Mohammed blättert in seinem Tagebuch. „Sie nennen mich hier das Kind“, steht dort. „Ich bin der Jüngste unter all den Gefangenen. Durch den Stacheldraht sehe ich nichts als Wüste. Es ist heiß, die Hitze flirrt in der Luft. Seit Monaten bin ich in diesem Gefängnis. Und bis heute weiß ich nicht, warum ich hier bin.“

Heute ist er neunzehn Jahre alt. Er wirkt jünger. Als wäre die Zeit stehengeblieben an dem Tag, als er verhaftet wurde. Dann blickt er hoch. Und in seinen Augen sieht man die ganze Leere der zwei Jahre Gefängnis, die auf die Nacht der Verhaftung folgen sollten. „Sie schrien herum und holten mich und meinen Bruder aus den Betten. Sie schleppten uns nach draußen. Ein israelischer Offizier fragte: Bist du Mohammed? Ich sagte Ja. Dann wurde ich geschlagen“, sagt er leise. Mohammed spricht nicht oft über seine Erinnerungen. „Bevor sie mir die Augen verbanden, sah ich noch, wie sie zum Haus meines besten Freundes Jihad gingen.“ Jihad lebt in einer unverputzten Kammer auf dem Dach seines Elternhauses. Von hier oben hörte er die Jeeps und sah die Soldaten zu Mohammed stürmen. Er ahnte nicht, wie ernst die Situation war. „Ich hatte gelacht, als ich sah, wie sie Mohammed holten. Sie hatten uns vorher auch schon verhaftet, und immer waren wir am nächsten Tag wieder frei. Diesmal war es anders, diesmal waren sie wegen uns gekommen“, sagt er.

Die Soldaten brachten sie nach Gusch Etzion, in ein Vernehmungslager des israelischen Geheimdienstes und Militärs. Jihad und die anderen blieben zusammen. Mohammed kam in eine Einzelzelle. „Der Raum war sehr klein, nur zwei mal zwei Meter groß. Ich konnte kaum meine Matratze hinlegen. Oft waren mir noch Handschellen angelegt. Wenn ich mich bewegen wollte, musste ich meine Matratze an die Wand stellen. Ich ging immer hin und her, von einer Wand zur anderen.“ Fast fünfzig Tage musste Mohammed in der Einzelhaft ausharren. Cupboard cells nennen die Häftlinge diese Zellen, weil der Raum so klein wie ein Geschirrschrank sei. „Es gab keine Fenster, das Licht brannte unentwegt. Nach ein paar Tagen bekam ich Augenschmerzen davon.“ Er macht eine Pause und dreht sich zum Fenster. Draußen hört man Kinder lachen. Sie spielen Fußball, wie jeden Tag. Sogar eine Mannschaft haben sie hier im Flüchtlingslager. In der hat auch Mohammed bis zu seiner Verhaftung gespielt, im Mittelfeld.

Die Spieler laufen flink die steilen Gassen hinauf. Sie bewegen sich sicher auf den labyrinthartigen Wegen. Sie sind hier geboren, wie schon ihre Eltern. Seit vierzig Jahren gibt es das Lager. Auf einer Größe von gerade mal einem Quadratkilometer leben elftausend Menschen. Das Regenwasser fließt den Jugendlichen in Sturzbächen entgegen. Sie schießen sich den Ball zu. „Überall hier haben Märtyrer gelebt. Da vorne wohnte einer, der mit meinem Bruder in der Schule war“, erzählt der schlaksige Amjat und zeigt auf eines der kleinen Betonhäuser rundherum. Vier graue Wände und ein Flachdach, oft ohne Fenster. Dann deutet er auf ein Plakat. Auch der sei bei den Al-Aksa-Brigaden gewesen und habe sich in einem Selbstmordattentat getötet, erklärt er. Das sei normal hier. Amjat redet im Stil eines Reiseführers. Dann donnert er den Ball gegen eine Blechwand. Es knallt sehr laut. Wie Gewehrschüsse sei das, sagen sie und lachen. Oben auf dem Hügel klettern sie gewandt wie Spinnen an einer Felsmauer hoch. Dahinter ist ihr Trainingsplatz, ein sauberes Betonfeld. Hier war der Hubschrauberlandeplatz von Jassir Arafat, auf dem Quadrat landete er, wenn er Bethlehem besuchte. Jetzt ist der Platz verlassen. Nach dem Training sitzen sie auf der Mauer und schauen auf das Lager hinunter. Alles ist ruhig. Noch vor nicht langer Zeit war das ganz anders. Da hallten Schüsse durch die engen Gassen, und rund um das Lager patrouillierten die Panzer. Niemand durfte sein Haus verlassen, wochenlang verhängte die israelische Armee eine Ausgangsperre. „Bis heute weißt du nicht, wann auf einmal ein Hubschrauber kommt und dich aus der Luft beschießt.“

Gewehrt haben sie sich einmal in der Woche. Jeden Freitag zogen sie zu einem der Checkpoints rund um das Lager und warfen Steine. Steine gegen Maschinenpistolen und Gewehre. Bei der Frage, wer von ihnen gekämpft hat, lachen sie. „Jeder!“, antwortet Amjat. Die Frage müsste sein, wer nicht. „Unsere Eltern wollten nicht, dass wir kämpfen. Sie haben uns oft geschlagen oder eingesperrt, wenn wir wieder am Checkpoint waren“, erzählt er. Doch am Ende gingen sie doch, niemand hat sie aufhalten können. „Für uns war das ein Spaß, wie Fußballspielen. Dass es kein Spiel ist, haben wir erst gemerkt, als sie die ersten Freunde erschossen haben.“ Plötzlich erzählen sie keine Heldengeschichten mehr. „Wofür habe ich eigentlich gekämpft?“, fragt der hochgewachsene Ayman. „Die Intifada hat mich fünf Jahre meines Lebens gekostet, die bekomme ich nie wieder zurück.“

Am nächsten Morgen fährt die Mannschaft zu einem Auswärtsspiel nach Abu Dis. Sie rechnen sich nicht viel Chancen auf einen Sieg aus. Denn immer wieder fehlt ihnen ein Spieler: von israelischen Soldaten verhaftet oder von den eigenen „Militanten“ rekrutiert. Und doch spielt das Team weiter. Fußball ist für sie mehr als nur ein Spiel, es ist Teil ihres Willens, zu überleben. Der alte Bus kommt an einen Checkpoint des israelischen Militärs. Sie werden angehalten und stundenlang befragt. Ein vollbesetzter Bus mit arabischen Jugendlichen ist verdächtig für die Soldaten. Die Jugendlichen kennen das, es ist Alltag für sie. Am Ende dürfen sie passieren und erreichen Abu Dis. Eine große graue Wand schiebt sich in ihre Welt. Zum ersten Mal sehen die Jugendlichen die Mauer, die ihr Land teilt. Langsam gehen sie auf die Wand zu, sie steht gerade ein paar Meter hinter der Seitenlinie des Fußballfeldes. „Mann, ist die hoch“, sagt Mohammed leise. Doch Amjat, der Spaßvogel, lacht schon wieder. Es sei doch beeindruckend, wie schnell die Israelis die Mauer gebaut hätten, sagt er. „Wir Araber hätten doch tausend Jahre dafür gebraucht.“

Das Spiel läuft schlecht für die Mannschaft, sie liegt drei zu null hinten. Plötzlich rutscht einem Spieler eine Flanke über den Fuß, der Ball fliegt über die Mauer. Sie laufen zur Mauer und rufen: „Schießt den Ball zurück! Wir brauchen den Ball!“ Das Spiel ist vorbei. „Wir hätten eh verloren“, sagt der Trainer lakonisch. Seit ihr Mittelstürmer Kifah erschossen wurde, hat das Team nicht mehr gewonnen.

Es passierte an dem Tag, als drei Kinder im Gaza-Streifen eine Handgranate fanden. Mit der Granate wollte der israelische Geheimdienst einen Hamas-Führer töten. Die Kinder spielten mit der Waffe und starben. Der Vorfall wurde schnell in ganz Palästina bekannt, und die Stimmung heizte sich auf. Kifah und seine Freude hörten davon und zogen zum Checkpoint Rachel Tomb. Kurz vor seinem Tod wurde Kifah noch von einem Lokalreporter fotografiert: Auf dem Foto ist er mit einem schwarzen Tuch vermummt und hält einen Stein in der rechten Hand. Kifah holt gerade zum Wurf aus. „Kifah war zu mir gekommen und sagte, ich solle ihm die Maske überziehen. Er sei müde, er wolle noch einen letzten Stein werfen und dann nach Hause gehen“, erzählt Ibrahim. Kifah rannte auf den großen Turm zu, als ihn die Kugeln aus kurzer Distanz in die Brust trafen. Der Schütze stand nicht oben auf dem Turm, sondern direkt vor ihm, hinter einem Müllcontainer. „Ich hörte Schreie, dass Kifah getroffen sei“, erzählt Ibrahim. „Ich rannte zu ihm hin. Er lag auf dem Boden und bewegte sich nicht. Kifah blutete stark, sein ganzer Pullover war rot.“ Eine Ambulanz brachte den Verwundeten ins nächste Krankenhaus. Doch selbst seine Freunde wussten, dass er kaum Chancen hatte, zu überleben.

Kifah war vierzehn, als er starb. Sein Vater war fast sein ganzes Leben ein Kämpfer. Zwanzig Jahre lebte Khaled Obeid im Untergrund, konnte seine Familie nur selten sehen. Der hagere Mann mit dem grauen Bart schaut einen geradeheraus an, wenn er spricht. Lange Jahre hat er in Haft verbracht und wurde oftmals verletzt. Selbst am Kopf traf ihn eine Kugel. Doch wollte er nie, dass sein Sohn den gleichen Weg geht. Oft verbat er ihm, zu den Kämpfen an den Checkpoints zu gehen. Er kann sich gut an den Tag erinnern, als sein Sohn erschossen wurde. „Ich arbeitete, als der Anruf kam. Ich fuhr sofort zum Krankenhaus. Und da lag Kifah tot auf einer Liege. Ich schlug ihm ins Gesicht und rief: ‚Warum musstest du so weit gehen? Warum musste es so weit kommen?‘ So als wollte ich ihn bestrafen und für seinen eigenen Tod verantwortlich machen. Es hat mir einfach das Herz gebrochen.“

Als er vom Krankenhaus nach Hause kam, wartete eine Gruppe Männer auf ihn. Es waren Mitglieder der Hamas und der Al-Aksa-Brigaden. Die Militanten diskutierten darüber, zu welcher Organisation Kifah gehört habe und wer seinen Tod zur Propaganda nutzen dürfe. „Ich kannte diese Leute aus meinen langen Jahren im Widerstand. Die Männer wurden sich nicht einig. Da sagten sie mir, ich solle entscheiden. Ich sagte ihnen, sie sollten mich damit in Ruhe lassen, und warf sie hinaus. Mein Sohn war kein Held oder Märtyrer. Er war ein Kind wie jedes andere.“

In dem kleinen Haus, das Mohammeds Familie bewohnt, ist es kalt. Die kahlen Wände und das blaue Wellblechdach schützen kaum gegen die Kälte des Frühlingstags. Die Mutter trägt das große, runde Tablett mit dem Mittagessen herein. Eltern und vier Kinder sitzen im Kreis um den Reis und das Gemüse. Nur Mohammed nicht. Er nimmt sein Essen und zieht sich damit zurück. Das geht seit vielen Monaten so, seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er erträgt keine anderen Menschen, selbst die eigene Familie nicht. „Er ist immer allein. Ich meine, er ist da, und er ist doch nicht da. Manchmal frage ich ihn: Sohn, lebst du mit uns oder nicht?“, sagt seine Mutter. Der Vater hält den Jüngsten im Arm und sagt, Mohammed sei seit seiner Haft wie verwandelt. „Er ist immer isoliert von uns. Früher hat er mit uns in einem Raum geschlafen. Heute zieht er sich von uns zurück. Ich kann meinen Sohn nicht fühlen.“ Mohammed hat das schon oft gehört. Er sagt nichts und geht in sein Zimmer. Dort legt er sich aufs Bett und schlägt sein Tagebuch auf. Dort steht in schnörkeliger Schrift: „Jeden Morgen mussten wir uns in Reihen aufstellen und durchzählen. Dann riefen sie die Nummern der Häftlinge auf, die zu Verhören ins Gefängnis nach Ofer gebracht wurden. Ich ahnte noch nicht, was das bedeutet, als der Soldat an meinem sechzehnten Geburtstag meine Nummer aufrief.“ Ein Jahr Gefängnis hatte Mohammed damals schon hinter sich. Die ganze Zeit wusste er nicht, warum er überhaupt in Haft war. Ihm war nur gesagt worden, er gefährde die Sicherheit des Staates Israel. Beweis sei eine geheime Akte, die weder Mohammed noch sein Verteidiger jemals zu sehen bekam.

„Das ist gängige Praxis“, erklärt Rechtsanwalt Daoud Darawi von der Menschenrechtsorganisation Defence for Children International. „Die Militärgerichte behaupten einfach, es lägen Informationen der Geheimdienste gegen das Kind oder den Jugendlichen vor. Aber diese seien natürlich geheim. Es ist eine Farce.“ Laut Absatz 132 der israelischen Militärordnung kann jedes Kind ab zwölf Jahren verhaftet werden. Zurzeit sind einige hundert Kinder und Jugendliche in israelischen Gefängnissen inhaftiert. Und die meisten haben nie eine Verhandlung gehabt. Sie werden nach der „Administrative Detention“ verhaftet, einer Regelung, die es den israelischen Behörden erlaubt, Häftlinge bis zu sechs Monate ohne rechtsstaatliche Verhandlung in Haft zu halten. Der Haken ist, dass die Zwangsmaßnahme mehrmals hintereinander ausgesprochen werden kann und sich die Haftzeit wie in Mohammeds Fall leicht auf zwei Jahre ohne Verhandlung summiert. „Das ist klar gegen international geltendes Recht und gegen die Genfer Konvention zum Schutz von Menschen in Kriegszonen. Jeder redet über Guantánamo – und hier sitzen hunderte Kinder und Jugendliche ohne faires Verfahren in israelischen Gefängnissen“, empört sich Darawi. Die inhaftierten Kinder seien nicht in speziellen Sektionen untergebracht, sie sitzen in normalen Gefängnissen für Erwachsene ein. Und sie werden verhört wie Erwachsene.

„Im Gefängnis Ofer setzten sie mich auf einen Stuhl und fesselten mir Hände und Füße. Dann zogen sie mir die Schuhe aus und schoben meine Hosenbeine hoch. Der Offizier, der die Befragungen durchführte, zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich drückte er sie auf meinem Fuß aus. Ich schrie. Er nahm eine neue Zigarette und begann wieder, mir die Beine zu verbrennen. Ich schrie nach Mutter und Vater, doch niemand konnte mir helfen. Der Offizier sagte immer wieder: ‚Willst du uns nichts erzählen?‘ Ich wusste nicht, was. Und hatte Angst, dass er die nächste Zigarette anzündet“, sagt Mohammed. Dann bückt er sich nach vorn und schiebt seine Hosenbeine nach oben. Noch heute kann man die dunklen kreisförmigen Brandnarben deutlich sehen. Es sind viele, dicht gedrängt auf Mohammeds Beinen. „Hier haben sie mich verbrannt. Ich fragte, was sie denn wissen wollten. Sie sagten, sie hätten keine Fragen, ich müsse ohne Fragen reden.“ Er zieht die Hosenbeine wieder herunter. „Sie haben sicher zwei Päckchen auf meinen Beinen ausgedrückt.“ Sein Blick verliert sich in der Ferne. Dann erzählt er, dass es auch noch andere Formen der Folter gab. Immer wieder hätten sie ihn geschlagen. Sie hätten seinen Kopf unter Wasser getaucht, bis er fast ertrunken sei. Am Ende sagte der Vernehmungsoffizier zu ihm, dass er ab heute jede Woche zu „Befragungen“ nach Ofer in der Nähe von Ramallah gebracht werde.

Es war nicht von ungefähr Mohammeds sechzehnter Geburtstag. Laut Absatz 132 der israelischen Militärordnung kann jeder Jugendliche ab sechzehn Jahren wie ein erwachsener Häftling verhört werden, eine Anweisung, die jedem international geltenden Recht widerspricht. Die israelischen Behörden – der Leiter der Gefängnisbehörde sowie das Militär und Justizministerium – lehnten jede Interviewanfrage zu Kindern in ihren Gefängnissen ab. Der Wunsch, verschiedene Gefängnisse zu besuchen, wurde ebenfalls abgeschlagen. Selbst das Rote Kreuz in Jerusalem, das gelegentlich Zugang zu den Gefängnissen bekommt, wollte kein Interview geben. Zu groß ist die Angst, dass nach einer Veröffentlichung die seltene Besuchserlaubnis von den israelischen Behörden annulliert wird. Die zahllosen Beispiele von Folterungen, bei denen Kinder zu einem Geständnis gezwungen werden sollen, sind jedoch hinreichend von palästinensischen und israelischen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Mohammed hat bis heute keine psychologische oder therapeutische Hilfe erhalten. Seinen Eltern hat er nie erzählt, was er in Ofer erleben musste.

Mit seinem Auto kurvt Khaled Obeid durch die engen Gassen des Flüchtlingslagers. Er ist auf der Suche nach seinem ältesten Sohn Millad. Er stoppt häufig und befragt Passanten, ob sie seinen Sohn gesehen hätten. Die Zeit verstreicht. Er wird langsam nervös. Es ist nicht die Angst vor israelischen Soldaten und Verhaftung, die ihn umtreibt. Es ist die Angst vor den eigenen Leuten. Er springt aus dem Auto und läuft in ein Café. Doch auch hier ist sein Sohn nicht. „Seit der Geschichte mit meinem Neffen Raed bin ich sehr vorsichtig“, sagt er. Es war, nur ein paar Monate nachdem Kifah erschossen wurde. Der Himmel war wolkenverhangen, und Khaled konnte in der engen Gasse kaum etwas sehen, als er gerade die Tür seines kleinen Hauses öffnete. Plötzlich standen Männer hinter ihm. „Ich drehte mich um, und einer sprach mich an. Es war Achmed Mughrabi von den Al-Aksa-Brigaden, ich kannte ihn, er lebte im Camp. Er fragte mich: ‚Willst du nicht Rache nehmen für deinen Sohn Kifah?‘ Der Mann wusste, dass ich lange im Widerstand war, und so antwortete ich: ‚Kein Problem, gib mir Sprengstoff, und ich töte die nächsten Siedler.‘ “

Doch Achmed Mughrabi, der lokale Chef der Al-Aksa-Brigaden, hatte einen anderen Plan. „ ‚Nein, ich will etwas anderes‘, sagte er und zeigte über meine Schulter. Ich drehte mich um und sah meinen Neffen Raed.“ Der Sechzehnjährige hatte die ganze Zeit hinter Khaled gestanden und zugehört. „ ‚Ich will ihn‘, sagte der Al-Aksa-Mann zu mir. Er scheint in guter Form und sieht unschuldig aus. Als Selbstmordattentäter kann er zehn oder fünfzehn Israelis töten.‘ “ Khaled war geschockt. „Ich sagte einen Moment lang nichts. Dann sagte ich: ‚Ich vergebe hiermit allen Juden beim Blut meines toten Sohnes, ich will keine Rache. Sprich niemals wieder mit mir über dieses Thema. Ich vergebe ihnen.‘ Mughrabi fragte mich erstaunt, warum ich so antworte. Ich sagte ihm: ‚Ein totes Kind reicht. Ich opfere kein weiteres.‘ Da gingen sie weg.“

Raed hörte jedes Wort mit. „Es war eine verrückte Situation“, erzählt der Junge. „Da stand mein Onkel mit diesen Männern, und sie diskutierten über meinen Tod oder mein Weiterleben. Bis mein Onkel sagte, dass sie verschwinden sollten.“ Doch die Brigaden hörten nicht auf, dem Jungen nachzustellen. Immer wieder sprachen sie ihn vor der Schule an, um ihn anzuwerben. Und fast hätten sie ihn überzeugt. „Ich wollte es eigentlich machen, ich wollte das Attentat machen“, sagt Raed. „Aber mein Onkel hat mich gerettet. Er nahm mich aus der Schule und besorgte mir Arbeit in einer Autowerkstatt. Und die ganze Zeit ließ er mich überwachen. Sobald ich außer Haus ging, war jemand hinter mir. Oft wartete er selbst auf mich und brachte mich zur Arbeit oder wieder nach Hause. Er verbrachte die Mittagspausen mit mir. Das ging sicher über ein Jahr so.“

Im Lager trifft der Mann mit der Zuckerwatte ein. Wild laufen die kleinen Kinder hinter seinem alten Auto her. Sie umringen ihn und beobachten gespannt jede seiner Bewegungen, als er seine Maschine anwirft. Der Staub der Zuckerwatte flirrt im Sonnenlicht. Hinter den Kindern hängt ein ausgeblichenes Plakat von einem jungen Mädchen an der Wand. Das Mädchen lebte in dieser Straße und war die einzige Selbstmordattentäterin. Am Morgen hatte Ayat noch ganz normal die Schule besucht. Die Sechzehnjährige legte sogar noch zwei Prüfungen in Geschichte und Religion ab. „Den Abend vorher hatte sie noch hier gesessen und eifrig gelernt“, sagt ihr Vater. „Sie machte die Prüfungen und schnitt in beiden Fächern sehr gut ab. Niemand ahnte etwas. Nach der Schule brach sie zu ihrem Einsatz nach Jerusalem auf.“ Ayats Vater sitzt unter einem fast lebensgroßen Poster seiner Tochter. Ein schönes Mädchen, das fröhlich in die Kamera blickt. Der ganze Raum ist mit Bildern von Ayat dekoriert.

Es war Freitag“, fährt der Vater fort, „die ganze Familie war zusammengekommen. Meine Frau hatte Couscous gekocht. Die Einzige, die fehlte, war Ayat. Wir alle warteten.“ Im Hintergrund läuft der Fernseher, wie auch damals, am 29. März 2002. Plötzlich wurde das Programm für eine Sondermeldung unterbrochen. „Wir sahen im Fernsehen die Nachricht, dass es in Jerusalem ein Selbstmordattentat gegeben habe. Sie sagten, der Täter sei ein junges Mädchen. Und plötzlich sahen wir Ayat, sie hielt ihre Abschiedsrede – meine Tochter Ayat! Das war ein unglaublicher Schock.“ Ayat hatte sich vor einem Supermarkt in Jerusalem in die Luft gesprengt. Es gab zwei Tote und 28 Verletzte. Der Mann, der sie schickte, war Al-Aksa-Chef Achmed Mughrabi. Ihre Eltern hatten nie mitbekommen, dass ihre Tochter in Kontakt mit den militanten Brigaden stand. „Wenn ich es geahnt hätte, was sie vorhat“, sagt der Vater, „ich hätte sie mit meinen Armen festgehalten und nicht gehen lassen … Oder vielleicht wäre ich selbst gegangen.“

Ein paar Tage nach dem Tod seiner Tochter sah Ayats Vater den Al-Aksa-Chef auf den Straßen des Lagers. Er schrie Mughrabi an, er solle ihm seine Tochter zurückgeben. Auch Khaled Obeid wird zornig, wenn er über den Al-Aksa-Chef spricht: „Leute wie er holen sich immer Jugendliche oder ungebildete, arme Leute. Menschen, die sie leicht beeinflussen und missbrauchen können. Ich kann allein zwanzig einfache Menschen aus unserem Gebiet aufzählen, die Mughrabi zu einem Selbstmordattentat geschickt hat. Mit vielen toten Israelis, das sind auch Zivilisten, Frauen und Kinder, was können die dafür? Aber in zehn Jahren habe ich noch nie erlebt, dass einer der militanten Anführer selbst gegangen wäre oder sein eigenes Kind geschickt hätte.“

Achmed Mughrabi ist inzwischen von israelischen Behörden festgenommen worden und zu zweiundzwanzigmal „lebenslänglich“ verurteilt worden. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis ein. Die Anschläge gehen weiter: Zu einem Selbstmordanschlag im Januar 2007, bei dem drei Israelis getötet wurden, bekannten sich der Islamische Dschihad und die Al-Aksa-Brigaden gleichermaßen.

Mohammed und sein Freund Jihad sind auf dem Weg nach Ofer. Mohammed will seinen Bruder besuchen, der mit ihm festgenommen wurde und immer noch einsitzt. Es ist für ihn das erste Mal, dass er das Gefängnis wiedersieht, in dem er gefoltert wurde. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, seine Bewegungen sind fahrig. Er blickt sich hektisch im Taxi um. Wie ein Tier, das langsam in die Enge getrieben wird. Dann sagt er dem Fahrer plötzlich, er solle anhalten. Er steigt aus und holt tief Luft. Es sind noch ein paar hundert Meter bis Ofer, man kann das Gefängnis deutlich in dem kleinen Tal unterhalb des Hügels sehen. „Ich kann das nicht, ich kann da nicht näher ran“, sagt Mohammed. Und läuft ganz langsam den Weg entlang. Jihad geht neben ihm. Sie sind still. Schauen immer wieder hinunter und sagen nichts. Es vergehen zwanzig Minuten. Dann erzählen sie sich Geschichten aus ihrer Gefängniszeit. Sie reden über Aufstände der Häftlinge, das schlechte Essen und die Langeweile. Über ihre Angst sprechen sie nicht. „Es ist schon komisch, ich kann da unten die Häftlinge sehen. Jetzt ist die Zeit, wo wir uns immer in Reihen aufstellen mussten“, sagt Mohammed. „Es ist so unwirklich, ich fühle mich noch da unten, aber ich bin auch draußen.“ Dann zieht er seine Brieftasche hervor und holt ein kleines Stück Papier mit einer Nummer und seinem Passfoto heraus. „Du hast deinen Gefängnisausweis bei dir? Du trägst ihn immer noch mit dir herum?“, fragt Jihad fassungslos. Mohammed nickt. „Ich habe ihn immer bei mir. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich kann ihn nicht ablegen“, sagt er und steckt den Ausweis wieder ein.

Amjat und die anderen Spieler aus der Fußballmannschaft rennen zu dem kleinen Haus, in dem ihr Freund Kifah lebte. Sie hocken sich rund um den kleinen Metallofen, in dem das Holz prasselt. Der Ofen ist die einzige Heizung im Haus. Es ist kalt, der Sommer lässt dieses Jahr auf sich warten. Die Spieler kommen gerne hierher, auch wenn Khaled Obei sie immer wieder ermahnt und mit ihnen diskutiert. „Amjat, ich habe dich letzten Freitag wieder beim Steinewerfen gesehen. Was soll das?“, fragt der alte Kämpfer den Jungen. „Was haben Sie denn damals gemacht? Sie waren doch selbst in der ersten Intifada. Warum waren Sie so oft im Gefängnis? Wir wollen wie Sie sein, ein Kämpfer!“, ruft Amjat trotzig. „Ja, wir waren bei der ersten Intifada dabei“, entgegnet Khaled. „Wenn ihr fähig seid zu kämpfen – kein Problem, nehmt eine Waffe und kämpft. Aber ihr seid noch halbe Kinder. Ihr zieht los, und am Ende des Tages sind drei oder vier von euch verwundet. Oder einer ist erschossen wie Kifah.“ Und dann erzählt er ihnen, dass er mit Kifah noch am Abend vor seinem Tod an diesem Ofen gesessen und ihm verboten hat, zu der Demonstration zu gehen. Und wie er selbst in der ersten Intifada immer wieder verhaftet wurde. Insgesamt zwölf Jahre war er im Gefängnis. Er sagt ihnen, dass Kifah sich lange weigerte, ihn als Vater zu sehen. Und er berichtet von den Momenten, wenn er nach einer Entlassung die enge Gasse hinaufging. Von seiner Angst, wie seine Kinder auf ihn reagieren würden. Amjat springt auf. „Ich gehe weiter zum Steinewerfen. Für mich ist das wie Fußballspielen. Ich habe keine Angst. Du kannst hier genauso gut aus einem Helikopter erschossen werden, wenn du gerade durch die Straße läufst. Aber wer feiert dich dann und trägt dich als Helden durch die Straßen?“, ruft er und rennt aus der Tür.

Später am Abend treffen sie sich in dem kleinen Kulturzentrum des Lagers. Hier gibt es Fernsehen über Satellit. Die Spieler sind schon ganz aufgeregt, heute wird Barcelona gegen Real Madrid gezeigt. Wild schreien und gestikulieren Amjat und seine Freunde herum und feuern ihre Idole im Fernsehen an. Für zwei Stunden vergessen sie die Kämpfe, die Soldaten und die Gewalt um sich herum. Für zwei Stunden wirken sie wie ganz normale Jugendliche. Da kommen ihre beiden ehemaligen Mitspieler. Amjat und seine Freunde blicken gespannt zur Tür. Es ist das erste Mal, dass sie Mohammed wieder treffen. Das erste Mal, dass er unter so viele Menschen geht. Er bewegt sich vorsichtig, langsam geht er ans Fenster. Als wollte er jeden Moment hinausspringen und abhauen. Doch nach und nach zieht ihn das Spiel in seinen Bann, er entspannt sich. Als das 4:1 für Madrid fällt, jubelt und schreit Mohammed fast so laut wie die anderen Jugendlichen. „Wir haben morgen ein Auswärtsspiel. Fahr mit!“, rufen seine ehemaligen Mitspieler Mohammed zu. Doch der winkt ab.

Der alte Bus ist wieder unterwegs. Sie fahren in Richtung Totes Meer. Die Jugendlichen singen zu der Musik aus ihren Radiorekordern. Sie werfen sich Bälle zu. Dann kommt der erste Checkpoint in Sicht. Schlagartig ist es ruhig im Bus, die Anspannung ist deutlich zu spüren. So früh am Morgen ist es hier noch leer. Der Soldat schaut in den Bus und fordert alle auf, nach draußen zu gehen. Dort stehen sie herum, während die israelischen Soldaten ihre Ausweise kontrollieren. Dann sagt einer der Soldaten zu Mohammed, er müsse zurück nach Deheisha. Mohammed fragt, warum, er habe doch einen gültigen Ausweis. Die Stimmung heizt sich auf. Der Soldat beginnt den Jungen zu stoßen. Dann schlägt er ihn mit der Faust. Sofort eilen weitere Soldaten herbei und schlagen auf Mohammed ein. Im nächsten Moment lassen sie von ihm ab. Warum, ist nicht zu erkennen. Die Mannschaft darf weiterfahren, mit Mohammed. Keiner sagt etwas, die Radiorekorder sind still, und die Bälle liegen auf der Bank. Nach zwei Stunden der nächste Checkpoint. Hier ist Endstation. Die Soldaten weigern sich, den Bus durchzulassen. Sie brauchten eine spezielle Erlaubnis aus Jerusalem, heißt es. Letzte Woche konnten sie noch ohne diese Erlaubnis fahren. Sie steigen wieder in den Bus ein. Doch plötzlich nimmt Mohammed einen Ball und geht auf den staubigen Platz vor dem Checkpoint. Amjat folgt ihm. Die beiden schießen sich vor den Augen der Soldaten den Ball zu. Nach und nach gehen auch die anderen Spieler nach draußen. Sie bilden zwei kleine Teams und spielen vor dem Checkpoint Fußball. Auf dieser Seite dürfen sie das.

„Weißt du, wie die Soldaten mich eben geschlagen haben. Und was uns gerade am Checkpoint passiert ist. Sie lassen uns nicht durch und schicken uns zurück, wir dürfen nicht ans Meer. Weil wir Araber sind. Das tut weh, ich will Rache dafür, ich werde wieder Steine werfen und kämpfen“, sagt Mohammed zornig. Der kleine Ibrahim schaut ihn an und schüttelt den Kopf. „Ich bin das alles leid“, sagt er. „Jeden Tag kommt im Fernsehen eine Nachricht, dass wieder ein Soldat oder ein Kind getötet wurde. Ich kann diese ganze Gewalt nicht mehr sehen.“

Es ist Abend im Flüchtlingslager. Die alten Männer sitzen in den Cafés und trinken arabischen Mokka. Die engen Gassen sind dunkel, es gibt keine Straßenbeleuchtung. Nur aus den wenigen Geschäften scheint ein wenig Licht nach draußen. An einer Ecke steht ein kleiner Junge und schießt einen Ball gegen die Wand. Immer wieder. Das Geräusch des Balls ist wie ein Metronom. Khaled Obei sitzt mit seiner Familie beim Essen. Seine Frau erzählt, dass sie heute eine höhere Schule nahe Bethlehem besucht hat. Dorthin könne der älteste Sohn Millad bald wechseln, um eine gute Ausbildung zu machen. Doch Khaled ist skeptisch, die Schule sei zu nahe am Checkpoint. Seine Frau widerspricht, eine Ausbildung sei für Millad wichtig, die einzige Chance, aus dem Lager herauszukommen. Doch der Vater beharrt: „Lieber habe ich einen Analphabeten als Sohn als einen zweiten toten Sohn“, sagt er. Dann wendet er sich seinen Kindern zu. „Wisst ihr, als euer Großvater so alt war wie ihr heute, gab es keine Soldaten und Checkpoints in diesem Land. Da gab es keine Kontrollen und keine Mauer. Man konnte hingehen, wohin man wollte.“

Mohammed sitzt bei Jihad. In der kleinen Kammer auf dem Dach des Hauses. Die Kerze auf dem Boden erhellt kaum den Raum. Die beiden hocken auf einer schmutzigen Matratze. Vor ihnen blubbert die Wasserpfeife. Rundherum nichts als nackte Wände. Ein einsamer Stuhl ist das einzige Möbelstück im Zimmer. In der Ecke steht eine blaue Sporttasche. Darin hat Jihad immer ein paar Kleidungsstücke gepackt. Falls die Soldaten noch einmal kommen. Mohammed hat unter seinem Bett mit den Teddybären auch so eine Tasche. Als er spricht, lehnt er sich zurück. Man sieht ihn kaum, seine Stimme kommt aus dem Schatten. „Ich weiß, dass sie mich jederzeit wieder verhaften können, weil ich bei den Israelis auf der schwarzen Liste stehe. Ich habe doch im Gefängnis die Gefangenen gesehen, die sie zum zweiten, dritten oder vierten Mal inhaftiert hatten. Ich rechne eigentlich jede Minute damit. Es kann jederzeit am Checkpoint passieren. Oder sie stürmen wieder das Haus und holen mich. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich hätte keine Angst davor.“ Minutenlang sagen beide kein Wort. Dann sagt Jihad: „Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, dachte ich, dass mal einer der Verantwortlichen, für die ich jahrelang gekämpft habe, zu mir kommt. Doch nie hat einer von diesen großen Nummern an meine Tür geklopft, um mir zu helfen, meine Moral zu stärken. Nur ein einziger Besuch, aber selbst das ist nie passiert. Sie haben uns nur für ihre Intifada missbraucht. In Haft war das anders, da waren wir wie eine Familie. Da waren wir füreinander da. Hier im Lager bin ich allein. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre wieder im Gefängnis.“

MARC WIESE, 40, ist mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilmer und hat in vielen Krisengebieten der Welt gearbeitet. Im Flüchtlingslager Deheisha verbrachte er sechs Monate