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Archiv-Artikel

Die Welt der Dinge ist widrig

KINO Geniale Gags: Eine Retrospektive in der Brotfabrik gibt Einblick ins Schaffen des Clowns, Filmemachers und Schauspielers Pierre Étaix

Als Assistent des Komikers Jacques Tati war der junge Pierre Étaix in den Straßen von Paris unterwegs, den Zeichenblock in der Hand. Étaix hatte Grafik studiert und Glasmalerei. Er bewunderte Tatis „Ferien des Monsieur Hulot“ und bewarb sich bei ihm. Tati erkannte Étaix’ Beobachtungsgabe und schickte ihn los: Mit leichter Hand warf Étaix aufs Papier, was ihm ins Auge fiel im Menschen- und Straßenverkehr, an kleinen Dramen, an banalen Grotesken, an Verwicklungen auch, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten zutrugen. Manches davon nutzte Tati für „Mon Oncle“.

1961 machte Étaix seinen ersten eigenen Kurzfilm, „Rupture“. Man sieht gleich, wie viel er von Tati gelernt hat. Ein Mann schreibt einen Brief, aber die Welt der Dinge ist widrig. Was immer er anfasst, tut nicht, was es soll: Der Kleiderbügel zerfällt, die Tinte spritzt und zerfließt, der Tisch steht schief und wird nicht mehr gerade. Nicht zuletzt hört man den Einfluss Tatis: Geräusche sind überlaut nachsynchronisiert und nicht nach der Natur. Eher wie Scherben klingen die Seiten, die der Mann in den Papierkorb befördert.

Dem Einfluss zum Trotz: Étaix ist kein Tati-Epigone. Schon darum, weil seine große Liebe nicht das Kino ist, sondern der Zirkus. Jahrelang tritt er als Clown auf, als Figur namens Yoyo hat er große Erfolge. Aber auch im Kino läuft es gut. Für seinen Kurzfilm „Heureux Anniversaire“ erhält er den Oscar: Eine Frau bereitet zu Hause am Hochzeitstag festlich den Tisch, der Mann will auf direktem Wege zu ihr. Die Götter der Stadt haben sich dagegen verschworen; er steckt fest, gerät auf Abwege, als er nach Stunden die Wohnung erreicht, ist die Frau betrunken und schläft.

Spielfilme folgen, meist schreibt er sie mit Jean-Claude Carrière, der später als Drehbuchautor von Buñuel, Forman, Godard und vielen anderen berühmt wird. In „Yoyo“ verbindet Étaix Kino und Zirkus. Und er erzählt die Technologiegeschichte des Bewegtbilds. Was als Stummfilm beginnt, endet als Fernsehsketch mit Krawall. Im Zentrum von „Yoyo“ steht ein Millionär, der sich in einem Schloss zu Tode langweilt, in der Großen Depression sein Vermögen verliert und im Zirkus glücklicher wird. Sein Sohn, der Clown Yoyo, kauft Jahrzehnte später das Schloss zurück, Glück bringt es nicht, er reitet auf einem Elefanten davon.

Aber eigentlich ist es Quatsch, Plots nachzuerzählen. Denn Pierre Étaix’ Genie liegt im Gag. Alles Erzählen ist nur das Errichten von Bühnen für auf den Millimeter getüftelte Scherze. Wie der Butler aus dem Stillleben an der Wand die Karaffe mit dem Wein herausgreift. Wie die Perle auf der Party einen Parcours absolviert und zuletzt – ohne dass es außer dem Zuschauer jemand mitgekriegt hat – wieder da ist, wo sie war. In den Gags von Pierre Étaix gerät die Welt aus dem Gleis, ein Mann verstrickt sich ins Eigenleben der Dinge und verheddert sich bei der Verwirklichung der eigenen Pläne.

Zehn Jahre lang, von 1961 bis 1971, war Étaix vom Erfolg verwöhnt. Sehr plötzlich war das vorbei, der Film „Pays de cocagne“, eine Doku über Gesangsamateure, geriet zum bösartigen Porträt der Provinzialität der Franzosen. Das Publikum hasste ihn, die Geldquellen versiegten, er wurde vergessen, es kam zum Streit um die Rechte. Seit ein paar Jahren gibt es neue Kopien, DVD-Editionen. Mit einem Wort: In der Brotfabrik ist ein Schatz zu entdecken. Und Étaix selbst, eine leider viel zu unbekannte Legende, ist als höchst lebendiger Mittachtziger persönlich dabei.

EKKEHARD KNÖRER

■ Retrospektive Pirre Étaix: Termine siehe www.brotfabrik-berlin.de