Tor für Europa!

Polen und die Ukraine werden die Fußball-EM 2012 gemeinsam austragen. In beiden Ländern herrscht nun Freude – und Angst vor der Herausforderung

1960: Die Fußball-EM gibt es seit 1960. 1972: Richtig relevant ist die EM erst, seit (West-)Deutschland in Belgien gegen die UdSSR (3:0) den EM-Titel gewinnt – mit Beckenbauer, Müller und Netzer, jenem unvergessenen und gleichzeitig maßlos überhöhten Jahrgang, der als der beste der Weltgeschichte gilt. 1980: Aufstockung der Endrunde auf acht Teams. Europameister wird die Bundesrepublik Deutschland (2:1 gegen Belgien, Trainer: Jupp Derwall). 1996: Der Sieg des von Berti Vogts trainierten DFB-Teams (2:1 gegen Tschechien) ist der Beweis, dass man auch mit rückständigem Fußball Titel holen kann. 2004: Auch Otto „Rehakles“ Rehagel belegt leider diese Erkenntnis, als er Griechenland zum EM-Titel 2004 führt.

AUS WARSCHAU RAFAŁ WOŚ

Die Entscheidung ist getroffen: Polen trägt also gemeinsam mit der Ukraine die Fußballeuropameisterschaft 2012 aus. Ich kann mich gut erinnern, was die WM 2006 für die Deutschen bedeutete, und eines ist mir klar: Für die Polen wird es diesmal vielleicht noch wichtiger, weil die Entscheidung zum perfekten Zeitpunkt kommt.

„Ey – das ist doch Wahnsinn, es wird sicher mit einer großen Blamage enden“, murmelte mein Vater, als ich ihn anrief, um zu erfahren, was er über die EM 2012 für Polen denkt. Er ist immer eine nützliche Quelle, wenn ich wissen will, was man eigentlich in Polen (also jenseits von Warschau) denkt. „Pass mal auf, Sohn“, argumentierte mein Vater, „wir haben keine einzige Fußballarena, für die man sich nicht schämen müsste. Nimm beispielsweise dein Warschau. Der größte Fußballplatz sieht dort aus wie das Stadion des FC St. Pauli.“ (Na ja, mein Vater hat mich mal besucht als ich in Hamburg wohnte). „Und es ist lächerlich im Vergleich zu diesen modernen Arenen“, fuhr er fort. „Und was ist mit unseren Autobahnen? Wir haben fast keine! All diese Fußballfans werden gar kein Spiel sehen können, verbringen eher ihre ganze Zeit in den riesigen Staus. Glaube mir, Sohn, die ganze EM ist nicht mehr als Träumerei. Wir werden uns überheben!“

„Ach Quatsch!“, unterbrach plötzlich meine Mutter das Gespräch an einem zweiten Apparat. „Ich kann das Jammern nicht mehr hören. Wir haben noch fünf Jahre Zeit, um alles zu bauen. Portugal hat es geschafft. Die Griechen haben sogar ihre Olympiade hinbekommen. Glaube mir, die Polen können nur dann arbeiten, wenn sie echtes Feuer unter den Füßen haben. Wir sollten uns freuen. Die Leute kriegen Jobs, und wir verdienen Geld!“ Meine Mutter war begeistert. Ich glaube, das Einzige, worauf sich die beiden einigen konnten, war die einfache Bemerkung: Wir werden viel Spaß mit dieser EM haben.

Die Uefa hat diese Entscheidung aber nicht getroffen, damit Polen Spaß hat. Diese Wahl ist nicht zufällig. In Polen und in der Ukraine leben insgesamt zirka 85 Millionen Menschen. Es ist ein vielversprechender Markt: Die Leute verdienen immer besser, sie sind immer konsumfreudiger und einfach hungrig auf ein sportliches Großereignis, das bisher noch nie – weder WM noch EM noch Olympia – in diesem Teil Europas stattgefunden hat.

Auch das polnisch-ukrainische Tandem hat unsere Chancen gegenseitig verstärkt. Die Ukraine erweckt seit der Orange Revolution im Westen eher Sympathie. Und Polen? Na ja. Das größte Land macht nach der Big-Bang-EU-Erweiterung dem Westen öfter Sorgen. Es benimmt sich manchmal wie ein schwieriges Kind: Zugeständnisse fallen ihm schwer, es hat aber keine Lust, mehr Verantwortung zu übernehmen. Die EM 2012 ist deshalb eine Herausforderung für dieses Kind. Ein Spielzeug, das Polen Verantwortung lehren sollte.

Gut, dass diese Entscheidung gerade jetzt fiel, insbesondere aus psychologischer Sicht. Polen hat eine sehr schwierige Dekade hinter sich. Als 1989 das alte System zusammenbrach, war es für manche Polen schlimm. Die Transformation ist zwar vorbei, sie hat aber tiefe Spuren hinterlassen. Sogar die Psychologen wundern sich ständig. Manchen Polen geht es im Vergleich zu 1989 jetzt wesentlich besser. Die Mehrheit ist aber unzufrieden. Psychologen glauben, es ist noch dieser Schock der Neunzigerjahre: der Zeit, als ständig zu hören war: „Ja, ja … Vor 1989 hatten wir zwar keine Demokratie und keine Freiheit, aber wenigstens Arbeit und … eine erfolgreiche Fußballnationalmannschaft.“

Ja, Letzteres stimmt leider. Für den polnischen Fußball waren die Neunziger die schäbigsten Jahre in der Geschichte. WM-Teilnahme: keine; EM-Teilnahme: keine; Weltklassespieler: keine; einzige Erfolge: zweimal Champions League und ein paar Medaillen für Nachwuchsmannschaften. Im Vergleich zum dritten Platz bei der WM 1974 und 1982 oder zu Stars wie Lato, Boniek und Gadocha schon eine schlimme Bilanz.

Der polnische Fußballfan hat also eine lange Fastenzeit hinter sich. Aber seit einigen Jahren bewegt sich etwas. Polen hat sich endlich bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften zweimal in Folge qualifiziert. Sowohl in Korea/Japan 2002 als auch in Deutschland 2006 haben wir dann zwar nichts Größeres erreicht – es war aber schon etwas, unter den Besten gewesen zu sein. Sogar die polnische Clubs gewinnen endlich öfter. Manchmal sogar gegen die Deutschen: Wisa Kraków hat mal Schalke in Gelsenkirchen mit 4:1 verprügelt (und wurde erst von Lazio Rom im Uefa-Pokal gestoppt). Ein Jahr später drückten wir die Daumen für Groclin Grodzisk Wielkopolski, der Hertha Berlin und Manchester City hinausgekegelt hat. Und plötzlich waren auch wieder Weltklassespieler in Sicht. Zum Beispiel Torwart Jerzy Dudek, der für den FC Liverpool im Champions-League-Finale drei Elfmeter von Stars des AC Mailand gehalten hat. Oder Ebi Smolarek, der in der Bundesliga zu den besten Spielern gehört. Und die Nationalmannschaft spielt unter dem Holländer Leo Beenhaker immer besser.

Ich erzähle das alles nicht, um zu belegen, dass wir bald wieder eine Fußballmacht werden. Tatsächlich ist der polnische Fußball nach wie vor im europäischen Vergleich Zweite oder sogar Dritte Liga: Das Niveau ist schlimm, und unser Fußballverband steckt in einer tiefen Korruptionsaffäre. Ich will eher sagen, dass es wichtig ist für die Polen, sich zu beweisen, dass sie auf einem guten Weg in eine gute Richtung sind. Nicht nur im Fußball – der spiegelt nur etwas Tieferes: dass diese Gesellschaft glauben will, dass wir in die gute Richtung gehen. Dafür braucht Polen diese EM. Und wird sie auch haben.

Rafał Woś ist Journalist bei der polnischen Tageszeitung Dziennik

AUS LWIW JURI DURKOT

Die Ukraine ist ein Land, in dem Ende 2004 die Revolution in Orange stattgefunden hat – und das mittlerweile fast alle Chance auf eine schnelle demokratische Entwicklung verspielt hat und von einer politischen Krise in die andere torkelt. Die meisten Europäer wissen das.

Weniger bekannt ist, dass die Ukraine auch ein Fußballland ist. Selbstverständlich hat man den Namen eines der besten Weltfußballer, Andrij Schewtschenko, schon mal gehört. Dynamo Kiew ist ein Begriff, und auch die ukrainische Nationalmannschaft und ihre Fans sind bei der Weltmeisterschaft eher positiv aufgefallen – zumindest diejenigen, die zusätzlich zu dem im Internet gezogenen Los auch das Glück hatten, ein Visum zu bekommen. Wobei sich Letzteres als viel schwieriger erwiesen hatte.

Doch die Fußballbegeisterung in der Ukraine hat nicht erst mit der Weltmeisterschaft 2006 – der ersten für die Ukraine überhaupt – und mit dem Einzug ins Viertelfinale begonnen. Heute gehören nicht nur die Schriftsteller Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan – der Letztere war sogar bereit, per Anhalter zur WM nach Deutschland zu reisen – zu den begeisterten Fans. Auch der reichste Ukrainer, Rinat Achmetow, schwärmt in der ostukrainischen Wirtschaftsmetropole Donezk von den Erfolgen seiner Mannschaft. Mittlerweile hat Donezk als einzige Stadt in der Ukraine ein nagelneues modernes Fußballstadion. Und für die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments, die im Juni 2006 in Schals und manche sogar in Trikots der ukrainischen Nationalelf erschienen sind, war die turbulente Parlamentssitzung nur ein Theaterspiel – eine gecharterte Maschine wartete schon startklar auf dem Flughafen, um sie nach Deutschland zum Spiel gegen Spanien zu bringen.

Sogar ich – meine Fußballbegeisterung beschränkt sich auf ein paar Spiele der Champions League und die Fußball-WM im Fernsehen – kann mich 25 Jahre nach dem Abitur an die gelegentlich geschossenen Tore in der Schulmannschaft so gut erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. So geht es mir auch mit den Spielen der Lemberger „Karpaten“ – damals waren wir bei jedem Heimspiel dabei und haben uns über jeden Sieg riesig gefreut, besonders wenn es ein Sieg über eine Mannschaft aus Moskau war.

Der Fußball hat in der Vergangenheit immer auch eine politische Rolle gespielt. Wie zum Beispiel in den 70er-Jahren, als Dynamo Kiew international sehr erfolgreich war. Oder in den 80er-Jahren, als die sowjetische Mannschaft fast ausschließlich aus den Spielern von Dynamo bestand. Für viele im westukrainischen Galizien war das ein Grund, ausnahmsweise die Daumen für die UdSSR-Elf zu halten. Sonst war man ja immer gegen die UdSSR, egal in welcher Sportart. Eine Form von kraftlosem Protest gegen die in Galizien geschmähte Fremdherrschaft der Sowjetunion.

Der Publizist Mykola Rjabtschuk erinnert sich in seinem Buch „Die reale und die imaginierte Ukraine“, wie er im Herbst 1990 mit einer Gruppe von Schriftstellern und Journalisten jene Studenten unterstützen wollte, die auf dem zentralen Platz von Kiew Zelte aufgeschlagen hatten und durch einen Hungerstreik den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Parlamentswahlen erzwingen wollten. Es gab ein Gerücht, dass die Fußballfans zur Auflösung der Protestaktion benutzt werden sollen. Als die Fans jedoch auftauchten, vom Spiel zurückkehrend und ihre Sprüche brüllend, rief jemand von den Demonstranten die Parole „Freiheit für die Ukraine!“ aus. Und völlig unerwartet stimmte die Menschenmasse ein. „Ich spürte damals zum ersten Mal, dass wir siegen werden“, schreibt Rjabtschuk.

Es ist gut, dass die EM 2012 in der Ukraine und in Polen stattfinden wird. Nicht nur weil dies das erste sportliche Großereignis in meinem Land seit der Unabhängigkeit sein wird. Nicht nur weil die Polen und die Ukrainer die EM nutzen können, um ihre Beziehungen, die in der Geschichte beiden Völkern so viel Leid gebracht haben, zu einem echten nachbarschaftlichen Verhältnis auszubauen. Und nicht nur weil dies das erste Sportereignis sein wird, das gleichzeitig in einem EU-Land und einem Nicht-EU-Land stattfinden wird. Vielleicht wird den EU-Politikern bis dahin etwas Besseres einfallen, als sich durch bürokratische Visaregelungen abzuschotten.

Logistisch wird das aber sowieso eine Herausforderung sein – schon heute gibt es zwischen den Nachbarstaaten nicht genug Grenzübergänge. Auch das Fehlen von Autobahnen und vernünftigen Hotels macht die Sache nicht leichter. Aber man hat schließlich noch fünf Jahre Zeit, um die Infrastruktur zu modernisieren, auch wenn dabei zwangsläufig viel Geld veruntreut werden wird. In der letzten Zeit bekommt die Ukraine mit einer fatalen Regelmäßigkeit immer neue Chancen, die sie genauso fatal und regelmäßig vermasselt. Die EM ist eine weitere Chance, die man aber nicht mehr verspielen darf. Eine Chance, verschiedene und so unterschiedliche Landesteile im Osten und im Westen zusammenzuführen: Wenigstens, wenn es um Fußball geht, sind sich alle Ukrainer einig. Für Rjabtschuk wurde der Fußball im Laufe der 90er-Jahre sogar zu einem der nationalen Symbole: „Als die ukrainische Fußballnationalmannschaft Ende der 90er-Jahre in derselben Qualifikationsgruppe mit der russischen spielte, stellten die Meinungsforscher verwundert fest, dass fast alle Einwohner der angeblich ‚prorussischen‘ Krim beim Spiel gegen die Russen doch der ukrainischen Mannschaft die Daumen hielten.“

Es ist zudem eine Chance, die Mauer der Gleichgültigkeit bei den Europäern zu durchbrechen, denn das Interesse des Westens an diesem Land ist immer noch auffallend gering. Durch die EM 2012 könnte Europa ein Stückchen weiter zusammenwachsen.

Juri Durkot lebt als freier Journalist in Lwiw (Lemberg)